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Schatten des Todes. Anton Tschechow
Читать онлайн.Название Schatten des Todes
Год выпуска 0
isbn 9783752951790
Автор произведения Anton Tschechow
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Du liest eine viertel, eine halbe Stunde, und da bemerkst du, daß die Studenten anfangen, die Decke oder Pjotr Ignatjewitschs Gesicht zu studieren; einer sucht sein Taschentuch, ein anderer setzt sich bequemer zurecht, ein dritter lächelt, in seinen eigenen Gedanken ... Das bedeutet, die Aufmerksamkeit ist ermüdet. Da muß man seine Maßregeln treffen. Ich benutze die erste Gelegenheit, die sich bietet und mache irgendeinen Witz. Alle die anderthalb hundert Gesichter lächeln breit, für einen Moment wird das Meeresrauschen wieder hörbar ... Ich lache auch. Die Aufmerksamkeit ist erfrischt, und ich kann fortfahren.
Kein Sport, keinerlei Zerstreuung und kein Spiel hat mir je so einen Genuss gewährt, wie meine Kollegien. Nur im Kolleg konnte ich mich ganz der Leidenschaft hingeben und begreifen, daß die Begeisterung keine Erfindung der Dichter ist, sondern wirklich existiert. Und ich glaube, Herkules hat nach der pikantesten unter seinen Heldentaten nicht die herrliche, süße Erschlaffung gefühlt, die ich nach jedem Kolleg erlebte.
Das war früher. Jetzt spüre ich in meinen Kollegien nichts als Qual. Es vergeht noch keine halbe Stunde, und schon macht sich eine unbesiegbare Schwäche in meinen Beinen und Schultern bemerkbar, ich setze mich auf den Stuhl, aber sitzend vorzutragen bin ich nicht gewöhnt; nach einer Minute erhebe ich mich wieder und spreche im Stehen weiter, dann setze ich mich nieder ... Mein Mund trocknet aus, meine Stimme wird heiser, in meinem Kopf dreht sich alles ... Um meinen Zustand vor den Hörern zu verbergen, trinke ich Wasser, huste ich, schnäuze ich mich häufig, als belästigte mich ein Schnupfen, ich mache zur Unzeit Witze und breche das Kolleg schließlich früher ab, als es sein müßte. Und dabei schäme ich mich so.
Mein Gewissen und mein Verstand sagen mir: das Beste, was du jetzt tun könntest, wäre, du hieltest den jungen Leuten deine Abschiedsvorlesung, sagtest ihnen ein letztes freundliches Wort, wünschtest ihnen alles Gute und räumtest deinen Platz einem Manne, der jünger und stärker wäre als du. Aber Gott möge mich richten, mein Mut ist nicht groß genug, daß ich nach meinem Gewissen handeln könnte.
Zu meinem Unglück bin ich kein Philosoph oder Theologe. Ich weiß sehr genau, daß ich nicht länger als ein halbes Jahr zu leben habe; es müßten mich also doch jetzt eigentlich mehr als alles andere die Fragen beschäftigen, die von der Grabesfinsternis und den Erscheinungen handeln, die mich in meinem letzten Schlaf besuchen werden. Aber, Gott weiß, warum, meine Seele will von diesen Fragen nichts wissen, obgleich mein Verstand ihre ganze Bedeutung anerkennt. Wie vor zwanzig, dreißig Jahren interessiert mich auch jetzt so dicht vor meinem Tode einzig und allein die Wissenschaft. Wenn ich meinen letzten Seufzer verhauche, werde ich noch immer glauben, daß die Wissenschaft das Wichtigste, Notwendigste und Schönste im menschlichen Leben ist, daß sie alle Zeit die erhabenste Ausstrahlung der Liebe gewesen ist und bleiben muß, daß nur durch sie der Mensch die Natur und sich selbst bezwingen kann. Dieser Glaube mag naiv sein und falsch in seinem tiefsten Grunde, aber ich kann nichts dafür, daß ich so glaube, und nicht anders; und diesen Glauben in mir zu besiegen, vermag ich nicht.
Aber darum handelt es sich nicht. Ich verlange nichts, als daß man sich zu meiner Schwachheit herabläßt und begreift, was das heißt, einen Menschen vom Katheder und von seinen Schülern fortzureißen, den die Schicksale des Knochenmarks mehr interessieren, als das Endziel der Weltschöpfung. Das wäre, als wollte man ihn ergreifen und ins Grab verschließen, ohne zu warten, bis er gestorben ist.
Infolge der Schlaflosigkeit, der Scham und des angestrengten Kampfes gegen die wachsende Schwäche zeigen sich merkwürdige Erscheinungen bei mir. Mitten im Kolleg steigt mir ein Schluchzen in die Kehle, meine Augen fangen zu brennen an, und ich verspüre ein leidenschaftliches, hysterisches Verlangen, meine Hände vorzurecken und in laute Klagen auszubrechen. Ich möchte es mit lauter Stimme hinausschreien, daß ich, der berühmte Mann, vom Schicksal zur Todesstrafe verurteilt bin, daß, nach einem halben Jahr etwa schon, hier im Auditorium ein anderer walten wird. Ich möchte es hinausschreien, daß ich vergiftet bin; neue Gedanken, die ich vorher nicht kannte, haben die letzten Tage meines Lebens vergiftet und senken noch immer giftige Stacheln in mein Mark, wie Moskitos. Und in solchen Augenblicken deucht mich mein Zustand so entsetzlich, daß ich den Wunsch hege, alle meine Hörer sollen entsetzt von ihren Plätzen aufspringen und in panischem Schrecken, mit verzweifeltem Aufschrei nach dem Ausgang stürzen.
Es ist keine Kleinigkeit, solche Minuten zu durchleben.
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