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Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab
Читать онлайн.Название Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil
Год выпуска 0
isbn 9783742772527
Автор произведения Gustav Schwab
Жанр Языкознание
Серия Die schönsten Sagen des klassischen Altertums
Издательство Bookwire
Knäbchen.« Ion durchforschte den Korb weiter, und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die
Drachenbilder hervor. »Das letzte Zeichen«, rief Krëusa, »muß ein Kranz aus den unverwelklichen
Oliven sein, die vom erstgepflanzten Ölbaume Athenes stammen und den ich meinem neugeborenen
Knaben aufgesetzt.« Ion durchsuchte den Grund des Kistchens, und seine Hand brachte einen
schönen grünen Olivenkranz hervor. »Mutter, Mutter!« rief er mit einer von schluchzenden Tränen
unterbrochenen Stimme, fiel Krëusen um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küssen. Endlich riß
er sich von ihrem Halse los und verlangte nach seinem Vater Xuthos. Da entdeckte ihm Krëusa das
Geheimnis seiner Geburt und wie er des Gottes Sohn sei, dem er so lang und getreu im Tempel
gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëusens wurden ihm jetzt
klar, und er fand selbst den verzweifelten Anschlag seiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben
verzeihlich. Xuthos nahm den Ion, obgleich nur als Stiefsohn, doch auch so als ein teures
Göttergeschenk in seine Arme, und alle drei erschienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken. Die
Priesterin aber weissagte von ihrem Dreifuß herab, daß Ion der Vater eines großen Stammes werden
sollte, Ionier nach seinem Namen genannt; auch dem Xuthos weissagte sie Nachkommenschaft von
Krëusen, einen Sohn, der Doros heißen und der weltberühmten Dorier Vater werden sollte. Mit so
freudigen Erfüllungen und Hoffnungen brach das Fürstenpaar von Athen mit dem glücklich
gefundenen Sohn nach der Heimat auf, und alle Einwohner Delphis gaben ihm das Geleite.
Dädalos und Ikaros
Auch Dädalos aus Athen war ein Erechthide, ein Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war
der kunstreichste Mann seiner Zeit, Baumeister, Bildhauer und Arbeiter in Stein. In den
verschiedensten Gegenden der Welt wurden Werke seiner Kunst bewundert, und von seinen
Bildsäulen sagte man, sie leben, gehen und sehen und seien für kein Bild, sondern für ein beseeltes
Geschöpf zu halten. Denn während an den Bildsäulen der früheren Meister die Augen geschlossen
waren und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht getrennt, schlaff herunterhingen, war er der
erste, der seinen Bildern offene Augen gab, sie die Hände ausstrecken und auf schreitenden Füßen
stehen ließ. Aber so kunstreich Dädalos war, so eitel und eifersüchtig war er auch auf seine Kunst,
und diese Untugend verführte ihn zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend. Er hatte einen
Schwestersohn namens Talos, den er in seinen eigenen Künsten unterrichtete und der noch
herrlichere Anlagen zeigte als sein Oheim und Meister. Noch als Knabe hatte Talos die Töpferscheibe
erfunden; den Kinnbacken einer Schlange, auf den er irgendwo gestoßen, gebrauchte er als Säge und
durchschnitt mit den gezackten Zähnen ein kleines Brettchen; dann ahmte er dieses Werkzeug in
Eisen nach, in dessen Schärfe er eine Reihe fortlaufender Zähne einschnitt, und wurde so der
gepriesene Erfinder der Säge. Ebenso erfand er das Drechseleisen, indem er zuerst zwei eiserne Arme
verband, von welchen der eine stillestand, während der andere sich drehte. Auch andere künstliche
Werkzeuge ersann er, alles ohne die Hilfe seines Lehrers, und erwarb sich damit hohen Ruhm.
Dädalos fing an zu befürchten, der Name des Schülers möchte größer werden als der des Meisters;
der Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinterlistig um, indem er ihn von Athenes Burg
herabstürzte. Während Dädalos mit seinem Begräbnisse beschäftigt war, wurde er überrascht; er gab
vor, eine Schlange zu verscharren. Dennoch wurde er vor dem Gerichte des Areopagos wegen eines
Mordes angeklagt und schuldig befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in Attika umher,
bis er weiter nach der Insel Kreta floh. Hier fand er bei dem Könige Minos eine Freistätte, ward
dessen Freund und als berühmter Künstler hoch angesehen. Er wurde von ihm auserwählt, um dem
Minotauros, einem Ungeheuer von abscheulicher Abkunft, der ein Doppelwesen war, das vom Kopfe
bis an die Schultern die Gestalt eines Stieres hatte, im übrigen aber einem Menschen glich, einen
Aufenthalt zu schaffen, wo das Ungetüm den Augen der Menschen ganz entrückt würde. Der
erfindsame Geist des Dädalos erbaute zu dem Ende das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener
Krümmungen, welche Augen und Füße des Betretenden verwirrten. Die unzähligen Gänge schlangen
sich ineinander wie der verworrene Lauf des geschlängelten phrygischen Flusses Mäander, der in
verzweifelndem Gange bald vorwärts‐, bald zurückfließt und oft seinen eigenen Wellen
entgegenkommt. Als der Bau vollendet war und Dädalos ihn durchmusterte, fand sich der Erfinder
selbst mit Mühe zur Schwelle zurück, ein so trügerisches Irrsal hatte er gegründet. Im innersten
dieses Labyrinthes wurde der Minotauros gehegt, und seine Speisen waren sieben Jünglinge und
sieben Jungfrauen, die, vermöge alter Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem Könige Kretas
zugesandt werden mußten.
Indessen wurde dem Dädalos die lange Verbannung aus der geliebten Heimat doch allmählich zur
Last, und es quälte ihn, bei dem tyrannischen und selbst gegen seinen Freund mißtrauischen Könige
sein ganzes Leben auf einem vom Meere rings umschlossenen Eilande zubringen zu sollen. Sein
erfinderischer Geist sann auf Rettung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz freudig aus:
»Die Rettung ist gefunden; mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aussperren, die Luft
bleibt mir doch offen; soviel Minos besitzt, über sie hat er keine Herrschergewalt. Durch die Luft will
ich davongehen!« Gesagt, getan. Dädalos überwältigte mit seinem Erfindungsgeiste die Natur. Er fing
an, Vogelfedern von verschiedener Größe so in Ordnung zu legen, daß er mit der kleinsten begann
und zu der kürzeren Feder stets eine längere fügte, so daß man glauben konnte, sie seien von selbst
ansteigend gewachsen. Diese Federn verknüpfte er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die
so vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, so daß sie ganz das Ansehen von Flügeln
bekamen. Dädalos hatte einen Knaben namens Ikaros. Dieser stand neben ihm und mischte seine
kindischen Hände neugierig unter die künstliche Arbeit des Vaters; bald griff er nach dem Gefieder,
dessen Flaum von dem Luftzuge bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, dessen der
Künstler sich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es sorglos geschehen und
lächelte zu den unbeholfenen Bemühungen seines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an seine
Arbeit gelegt hatte, paßte sich Dädalos selbst die Flügel an den Leib, setzte sich mit ihnen ins
Gleichgewicht