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Epidemiologie für Dummies. Patrick Brzoska
Читать онлайн.Название Epidemiologie für Dummies
Год выпуска 0
isbn 9783527837212
Автор произведения Patrick Brzoska
Жанр Медицина
Издательство John Wiley & Sons Limited
Bevölkerungsentwicklung und gesellschaftliche Situation
Die Bevölkerungsentwicklung ist nicht nur für Demografen interessant: Sie hat Auswirkungen auf die gesellschaftliche und damit auf die gesundheitliche Situation (so erklärt sich, warum auch Epidemiologen Demografie betreiben). Umgekehrt beeinflusst auch die gesellschaftliche Situation die Bevölkerungsentwicklung. Wir zeigen Ihnen diese Wechselwirkungen anhand der Beispiele Alterung, Migration und der Folgen der deutschen Wiedervereinigung.
Alterung der Bevölkerung
Von 2003 bis 2011 sank die Bevölkerungsanzahl in Deutschland, weil die Zuwanderung aus dem Ausland das Defizit bei den Geburten (weniger Geborene als Gestorbene) nicht ausgleichen konnte. Durch die hohe Zuwanderung steigt die Bevölkerungszahl seit 2011 leicht an. Gleichzeitig altert die Bevölkerung. Politiker und Gesundheitsplaner fragen sich natürlich, was das für Auswirkungen hat. Wie sich Bevölkerungsgröße und Bevölkerungsstruktur in den Jahren bis 2060 voraussichtlich entwickeln, hat das Statistische Bundesamt gemeinsam mit den Statistischen Landesämtern in der »14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung« abgeschätzt.
Bei einer Bevölkerungsvorausberechnung berechnen die Statistiker und Demografen mehrere Szenarien, die sich durch die Annahmen bei der Fertilität, der Sterblichkeit und der Außenwanderung unterscheiden. Bei der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung waren es 21 Varianten.
Nach den mittleren Varianten der Vorausberechnung wird die Bevölkerungszahl zwischen 2018 und 2060 um 5,8 bis 10,4 Prozent zurückgehen. Was sind die Folgen?
Das durchschnittliche Alter der Bevölkerung wird in diesem Zeitraum von 44 Jahre auf maximal 50 Jahre steigen – Deutschland ergraut.
Gleichzeitig verschiebt sich das Zahlenverhältnis zwischen den Altersgruppen, der Anteil der älteren, abhängigen Menschen in der Gesellschaft steigt. Auf jeweils 100 Menschen im wirtschaftlich aktiven Alter von 20 bis 64 Jahren kommenstatt heute 29 dann zwischen 31 und 37 Menschen unter 20 Jahren (der sogenannte Jugendquotient steigt also leicht),statt heute 31 dann 43 bis 57 Menschen im Alter von 65 Jahren und höher (der sogenannte Altenquotient steigt also stark an).
Durch die Alterung nehmen chronische Krankheiten und Pflegebedürftigkeit zu. Über 80 Prozent der Pflegebedürftigen gehören zur Gruppe der älteren Menschen. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen von heute 3,5 Millionen auf etwa 5,1 Millionen ansteigen. Der ebenfalls stark steigende Altenquotient lässt erkennen, dass zukünftig die wirtschaftlich aktiven Menschen für eine vergleichsweise immer größere Zahl alter Menschen sorgen müssen.
Zunahme der Demenzerkrankungen
In Deutschland erkranken jährlich etwa 300.000 Menschen neu an einer Demenz. Die Zahl der Erkrankten liegt Ende 2018 bei gut 1,5 Millionen, davon sind nur 2 Prozent jünger als 65 Jahre. Mindestens zwei Drittel der Demenzkranken leiden an der Alzheimer-Krankheit.
Der prozentuale Anteil der Erkrankten an der Bevölkerung (Prävalenz) verdoppelt sich in fast jeder Fünf-Jahres-Altersgruppe. Bei den 65- bis 69-Jährigen liegt der Anteil bei 1,3 Prozent, bei den 90-Jährigen und Älteren sind es rund 41 Prozent.
Schätzungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft zeigen eine Zunahme der Demenzerkrankten von 1,6 Millionen auf 2,4 bis 2,8 Millionen im Jahr 2050. Die Zahl der Demenzkranken wird sich durch die Alterung der Bevölkerung demnach innerhalb von etwa 30 Jahren fast verdoppeln, falls die Wissenschaft keine wirksame Therapie findet. Epidemiologen leisten ihren Beitrag, indem sie beispielsweise Risikofaktoren für die Alzheimer-Krankheit ermitteln.
Zuwanderung nach Deutschland
Deutschland ist ein Einwanderungsland, auch wenn das die Politik viele Jahrzehnte lang nicht wahrhaben wollte. Das zeigt Ihnen Tabelle 4.2 weiter vorn in diesem Kapitel.
Arbeitsmigration nach Deutschland
Mitte der 1950er-Jahre gab es in Westdeutschland das erste Anwerbeabkommen für »Gastarbeiter« aus Italien. Zu Beginn der 1960er-Jahre kam die Arbeitsmigration aus der Türkei hinzu; besonders seit den 1970er-Jahren zogen auch Familienangehörige nach. Auch in der ehemaligen DDR gab es eine Arbeitsmigration. Die Migranten kamen aus den sogenannten sozialistischen Bruderländern wie Vietnam.
Zunächst sollten die »Gastarbeiter« nach drei bis fünf Jahren Arbeit in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Das erwies sich für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer als unzumutbar. Die Menschen blieben und gründeten Familien – zunehmend mehr von ihnen bleiben daher auch im Rentenalter in Deutschland. Aus »Gastarbeitern« sind Zuwanderer geworden.
2020 lebten rund 10,3 Millionen ausländische Staatsangehörige in Deutschland. Aber nicht alle Menschen mit »Migrationshintergrund« sind Ausländer: Es gibt viele Zuwanderer sowie Kinder von Migranten mit deutschem Pass. In Deutschland haben 21,9 Millionen Menschen und somit etwas mehr als ein Viertel (26,7 Prozent) der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. (Migrationsforscher sprechen mittlerweile lieber von »Eingewanderten und ihren direkten Nachkommen«). Dieser Teil der Bevölkerung ist im Durchschnitt wesentlich jünger als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund; der Männeranteil ist etwas höher. Zu den häufigsten Herkunftsländern der Menschen mit Migrationshintergrund zählen die Türkei, die Russische Föderation, Polen, Kasachstan, Rumänien und Italien.
Menschen mit Migrationshintergrund haben ein höheres gesundheitliches Risiko als die Mehrheitsbevölkerung. Ihr gesellschaftlicher Status ist häufig niedrig, sie verdienen und wohnen schlechter, arbeiten an gefährlichen Arbeitsplätzen und sind häufiger arbeitslos. Der Anteil rauchender Männer und der Anteil von Kindern mit Übergewicht ist höher. Zuwanderer aus ärmeren Ländern leiden häufiger an Tuberkulose, die Säuglingssterblichkeit in kürzlich zugewanderten Familien ist höher.
Zuwanderer sind keineswegs von vornherein kränker als die Allgemeinbevölkerung. Es wandern meist besonders gesunde, mutige und aktive Menschen zu. Daher können Zuwanderer zunächst sogar einen gesundheitlichen Vorteil haben. Dieser Vorteil kann durch ungünstige Lebensbedingungen schwinden.
Wir Epidemiologen kritisieren, dass es zur Gesundheit von Zuwanderern in Deutschland immer noch zu wenige brauchbare Daten gibt. Das macht es uns schwer, besondere Risiken zu erkennen, denen Zuwanderer ausgesetzt sind, und wirksame Maßnahmen zur Erhaltung oder Verbesserung ihrer Gesundheit zu entwickeln.
»Zuwanderung« oder »Einwanderung«? Streng genommen wissen wir ja erst am Lebensende, ob ein zugewanderter Mensch zum Einwanderer geworden ist – bis dahin kann er ja die Entscheidung treffen, dauerhaft in sein Herkunftsland zurückzuwandern. Ganz ohne Zweifel aber ist Deutschland ein Einwanderungsland, und so nennen wir es auch. Sie merken: Manche Begriffe haben nicht nur eine fachliche Bedeutung, sondern auch eine politische.
Geburtenrückgang nach der Wende
Gesellschaftliche Umbrüche können dramatische Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung nach sich ziehen. Das zeigen die Geburtenzahlen in Ostdeutschland nach der Wende 1989 besonders eindringlich.
Zur Vorgeschichte: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs stieg die durchschnittliche Kinderzahl in beiden Teilen