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Bodden. Diese noblen Wasserfahrzeuge, die teuren Wohnungen des Hafenquartiers – passte so etwas nicht eher nach Hamburg als in diese gemütliche und etwas verschlafene Stadt?

      Lisa schreckte hoch, als sie ein Geräusch aus der Wohnung hörte. Es war nicht laut, vermutlich war durch den Luftzug, der mit dem Öffnen der Tür zur Dachterrasse entstanden war, eine Tür ins Schloss gefallen. Sie sah keinen Grund, die Pistole schussbereit zu halten. Ein zweites Mal streifte sie durch die Räume. Nein, da war niemand. Sie ging ins Schlafzimmer und wandte sich dem Nachttisch zu. Ohrstöpsel, Medikamente, Kondome. Kondome? Sie warf einen Blick auf das Bett, King-Size-Format, goldener Metallrahmen. Es passte nicht wirklich zu einem 72-jährigen Pensionär. Aber waren das nicht alles Vorurteile?

      Im Wohnzimmer gab es ein Regalfach mit mehreren Büroordnern. Einer war mit Gericht beschriftet und enthielt mehrere Schriftstücke, die gerichtliche Auseinandersetzungen um die Biberbauten am Prägelbach dokumentierten. Lisa packte den Ordner in eine mitgebrachte Stofftasche und legte sie auf den Wohnzimmertisch. Dann wandte sie sich dem Bücherregal zu. Krohnhorst hatte nicht viele Bücher, die meisten drehten sich um Jagd oder Landesgeschichte, dazu kam eine Reihe von Reiseführern. Als sie einen Bildband über Thailand herauszog, fiel aus der hinteren Umschlagklappe ein Briefumschlag auf den Fußboden. Sie griff hinein und hatte ein Dutzend Fotografien in der Hand. Sie waren zum Teil verwackelt, bei einigen waren dunkle Streifen oder Flächen im Vordergrund zu sehen – so, als ob jemand aus einem Versteck heraus fotografiert hätte. Zu sehen war auf allen Bildern ein Stück von einem Parkplatz. Ein Mann, dessen Gesicht kaum zu erkennen war, hielt sich neben einem dunklen SUV auf, bückte sich, blickte sich um. Auf einem Bild war er auf dem Boden kauernd zu sehen, er schien einen Gegenstand, den man nicht erkennen konnte, gegen den Reifen zu halten.

      »So, so«, murmelte Lisa, »das ist ja interessant.« Sie steckte die Fotos wieder in den Umschlag und legte ihn zu dem Ordner auf den Wohnzimmertisch. Dann ging sie in die Küche, auf der Suche nach weiteren Dingen, die für die Ermittlungen relevant sein konnten. Als sie in eine Schublade griff, hatte sie plötzlich ein Bündel Geldscheine in der Hand. Beinahe im gleichen Augenblick glaubte sie, hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen. Sie hatte nichts gesehen und nichts gehört, es kam ihr nur so vor, als sei irgendeine Art von Unruhe im Raum. Ihr Gespür für feine Vibrationen – oder was immer es war – rettete sie. Noch während sie herumfuhr, sauste ein länglicher Gegenstand auf sie nieder. Er prallte gegen ihren Arm, den sie instinktiv nach oben gerissen hatte. Sie konnte den Schlag zwar abschwächen, aber er war kräftig genug, um sie zu Boden zu schleudern. Im Fallen stieß sie mit dem Kopf gegen den Küchenschrank. Ein Hocker flog krachend gegen die Wand. Sie spürte einen scharfen Schmerz an der linken Hand und blieb benommen liegen.

      ›Was war das? Wer war das? War der Angriff vorbei?‹ Für Sekunden rasten diese Fragen durch ihren Kopf, aber sie war nicht in der Lage, sie zu beantworten oder sich zu bewegen. ›Hörte sie Schritte, die sich entfernten? Wurde eine Tür zugeschlagen? Oder träumte sie?‹ Sie kam wieder zu sich, schüttelte sich, stand auf. Mit aller Kraft drückte sie sich von der schwarzen Wand ab, die sich vor ihre Augen schieben wollte. Jetzt endlich zog sie die Pistole und lief schwankend zur Wohnungstür. Als sie die öffnen wollte, bemerkte sie, dass Blut auf den Fußboden tropfte. An ihrer linken Hand war ein tiefer Schnitt. Sie musste sich im Fallen die Haut aufgerissen haben. Egal.

      Draußen an der Wohnungstür, mit einem Fuß im Flur, lauschte sie. Ein singendes Geräusch: der Aufzug. Nur eine halbe Sekunde zögerte sie, dann rannte sie die Treppe nach unten. Auf jedem Stockwerk blieb sie kurz stehen und horchte, ob der Fahrstuhl noch in Bewegung war. Auf der zweiten Etage hörte sie nichts mehr, stattdessen öffnete unten jemand die Haustür. Sie stürmte die letzten Treppenstufen hinab, riss die Tür auf – und stieß mit einem Mann zusammen, der seine Kamera gerade noch rechtzeitig zur Seite ziehen konnte.

      »Pass doch auf, wo du hinläufst, Kind!«

      »Haben Sie den Kerl gesehen, der gerade aus dem Haus kam?«

      Der Mann mit der Kamera, untersetzt, wenige Haare, musterte sie mit einem eigenartigen Ausdruck, nicht überrascht, was sie gut verstanden hätte, sondern irgendwie erwartungsvoll. Nicht einmal ihre Waffe schien ihn zu erschrecken.

      »Ich habe ihn fotografiert«, sagte er.

      Sie war schon wieder ein paar Schritte weitergelaufen und sah, dass eine schlanke Person in einem grünen Kapuzenpulli quer über den Parkplatz vor der Wohnanlage lief.

      »Wirklich?«

      Lisa steckte die Visitenkarte, die ihr der Mann entgegenstreckte, hektisch ein. Seine Gesten und seine Stimme hatten etwas Unangenehmes, etwas Lüsternes, fand sie. »Ich kann Ihnen die Datei zukommen lassen. Ermitteln Sie auch in der Stricherszene?«

      Sie war schon fast am Parkplatz. »Ich melde mich«, rief sie ihm zu.

      Der Flüchtende war nicht mehr zu sehen. Lisa überquerte die freie Fläche zwischen zwei Reihen parkender Autos und lief dann einfach geradeaus weiter, in der Hoffnung, den Mann aus der Wohnung noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Die Waffe steckte sie beim Laufen zurück ins Holster. Mit der rechten Hand presste sie ein Taschentuch auf die Wunde, die noch immer blutete. Sie überquerte den Hansering und stand in der Grünanlage am Schießwall, auf einem schnurgeraden Weg. Ganz am Ende sah sie ihn: Er bog ab und war erneut verschwunden. Sie versuchte den Weg abzukürzen und zielte diagonal auf die Hausecke an der Friedrich-Loeffler-Straße. Details brannten sich in ihre Wahrnehmung ein, wie bei einem Film, der an unwichtigen Stellen stehenbleibt. Die schiefen Wände eines Fachwerkschuppens auf der Ecke zur Friedrich-Loeffler-Straße. Eine schnurgerade gepflasterte Gosse neben der Marienkirche, eine Werbetafel mit der Aufschrift Papierhaus. Fahrräder vor einem Bankgebäude, die so aneinander lehnten, als würden sie sich umarmen. Weiter, immer weiter. Das Taschentuch auf ihrer Wunde war mittlerweile feucht und rot. Sie bog nach rechts ein und erreichte den Marktplatz. Sie atmete schwer und ignorierte das Ziehen in der Brust. Einige Verkaufswagen standen herum, es waren nicht sehr viele Leute unterwegs. Gab es einen grünen Kapuzenpulli? Da war er! Schlenderte dreist zwischen einem Wurstwagen und einem Gemüsestand hindurch. Wollte wohl keine Aufmerksamkeit erregen. Lisa umrundete die Verkaufsstände und lief dem Mann im Kapuzenpulli direkt vor die Nase. Mit erhobener Waffe ging sie auf ihn zu. »Polizei! Nehmen Sie die Hände langsam aus der Tasche!«

      Zum ersten Mal sah sie ihn von vorn. Er war um die vierzig Jahre alt und hatte einen überraschend treuherzigen Gesichtsausdruck. Sie nutzte seinen Schreck aus und dirigierte ihn in Sekundenschnelle hinter einen Fischwagen, tastete ihn ab und legte Handschellen um seine Handgelenke. Dann rief sie die Kollegen im Revier an und bat um Verstärkung. Sie versuchte, zur Ruhe zu kommen, und drückte ein weiteres Taschentuch auf ihre Wunde, wahrscheinlich hatte sie eine theatralische Blutspur von Krohnhorsts Wohnung bis zum Greifswalder Marktplatz gelegt. Hätte sie das vor einem Jahr ihrer besten Freundin von der Polizeischule erzählt, sie hätten sich kaputtgelacht. Aber Lisa war nicht zum Lachen zumute. Dem Mann im Kapuzenpulli im Übrigen auch nicht. Er hatte zunächst überhaupt nichts gesagt und schien regelrecht unter Schock zu stehen. Auf den ersten Blick würde kein Mensch vermuten, dass sich so einer in die Wohnung eines Toten schlich und eine Polizistin zusammenschlug.

      »Können Sie mir bitte sagen, was … ich, ich wollte doch nur …«

      »Was haben Sie in der Wohnung gesucht?«

      »Welche Wohnung denn?«

      »Stellen Sie sich nicht dümmer, als sie sind!«

      »Also, ich … ich wollte Käse kaufen.«

      Seine dumme Ausrede klang erstaunlich überzeugend. Lisa hatte kein Verständnis für eine solche Dreistigkeit.. Wer versuchte, einer Polizistin den Schädel einzuschlagen, brauchte nicht auf eine zarte Behandlung zu hoffen. Das sagte sie auch den uniformierten Kollegen, die nach wenigen Minuten mit zwei Streifenwagen eintrafen. Sie hörten sich an, was passiert war, und klärten den Täter darüber auf, dass sie ihn nun auf die Polizeiwache verfrachten würden. Die Sache würde ihren Lauf nehmen. Aber dann tauchte diese Frau auf. Hellbraune Locken, Lederjacke, Seidentuch, Stiefeletten mit Silbernieten.

      »Was haben Sie denn mit meinem Mann vor?«

      Es klang so, als wolle die Polizei ihr das schönste

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