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Mary Shelley. Barbara Sichtermann
Читать онлайн.Название Mary Shelley
Год выпуска 0
isbn 9783955102869
Автор произведения Barbara Sichtermann
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Издательство Bookwire
Ein weiteres Mal hieß es für Mary Abschied nehmen von den Baxters, eine große Familie, deren Mitglieder Mary allesamt ans Herz gewachsen waren. Es war im Mai des Jahres 1814. Sie stand mit ihren Gastgebern neben Isabel am Pier, die Koffer wurden aufs Schiff gehievt. Beide Mädchen versprachen einander Briefe, Briefe und noch mehr Briefe. Ein letzter Kuss auf Isabels Wange, ein Händedruck mit Mutter Baxter, und Mary ging an Bord. »Schreib mir was über den Dichter«, rief Isabel ihr nach, »diesen, du weißt schon, Shelley. Ich möchte wissen, ob er nur ein Wirrkopf ist oder ein echter Revolutionär.«
Aus Briefen von zu Hause wusste Mary, dass es seit Längerem außer den treuen Freunden William Hazlitt, einem Kritiker, und den Dichtern Samuel Coleridge und Charles Lamb, die oft vorbeischauten, noch einen weiteren Wahlverwandten in der Skinner Street gab: Percy Bysshe Shelley. Den hatte sie noch nicht kennengelernt; sie hatte ihn zwar vor zwei Jahren kurz in der elterlichen Wohnung gesehen, aber sie erinnerte sich nicht mehr an ihn. Isabel, die sich brennend für alles interessierte, was mit der Französischen Revolution zusammenhing, und gehört hatte, dass Shelley ein Parteigänger der Jakobiner war, hätte Mary am liebsten nach London begleitet, um diesen gerade mal einundzwanzigjährigen Dichter selbst kennenzulernen. Fanny berichtete, er rede viel und klug und meist über Politik, wenn nicht über Poesie. Alle waren von ihm eingenommen, denn er hatte nicht nur die Tischgespräche belebt und Fanny – so meinte Jane – beziehungsweise Jane – so meinte Fanny – den Kopf verdreht, sondern auch größere Summen als nicht rückzahlbare Dotationen in Aussicht gestellt, damit Godwin seine drückenden Schulden loswürde. Ein guter Geist war da also in die Familie gefahren, ein Retter, ein Wohltäter. Mary war sehr gespannt auf diesen jungen Mann und fest entschlossen, ihren eigenen Kopf hoch auf den Schultern zu behalten. Zumal Shelley mit einer Ehefrau lebte, die er entführt hatte, als sie sechzehn war und die bezaubernd schön sein sollte. Seit einem knappen Jahr hatten die beiden eine kleine Tochter.
Im Jahre 1814 war die politische und soziale Lage in England äußerst angespannt. Infolge Napoleons Politik der »Kontinentalsperre«, die nichts anderes war als ein Verbot für die Länder in Frankreichs Machtbereich, Waren aus Großbritannien einzuführen, hatte sich eine große Wirtschaftskrise ereignet; zugleich machten die Folgen der Industriellen Revolution, machten Maschinen – vor allem in der Textilindustrie – immer mehr Menschen arbeitslos. Die Politiker reagierten hilflos, sie beschränkten sich darauf, die Privilegien der Reichen in Stadt und Land zu sichern, und überantworteten die »labouring poor« ihrem Elend. Für Intellektuelle wie Shelley, Godwin und Hazlitt ergaben sich täglich neue Anlässe, in Gedanken auf die Barrikaden zu steigen, in Worten und Taten aber nach gewaltfreien Wegen zu suchen, um die Zustände zu ändern. Als Mary das erste Mal an einer abendlichen Gesprächsrunde im Wohnzimmer ihres Vaters teilnahm, in Gesellschaft der Familie und jenes Dichters Percy Shelley, saß sie scheu und verschlossen dabei. Sie hörte die Männer disputieren, es ging um Getreidezölle, und überlegte derweil, wie sie Isabel den jungen Mann schildern solle. Er war groß und dünn, trug sich nachlässig mit bunter Weste, engen Beinkleidern, das blonde wellige Haar ungetrimmt und fast schulterlang. Sah er nicht aus wie ein Mädchen – die großen Augen, die rosige Haut, kein Bartwuchs? Aber wie er dann lachte und fuchtelte und seine Meinung verteidigte, dabei glühten seine Blicke – das war doch männlich. Er zwinkerte Fanny zu, das entging Mary nicht. Als er sich verabschiedet hatte, nahm sie Jane beiseite.
»Warum hat er seine Frau nicht mitgebracht? Auf sie war ich fast noch neugieriger als auf ihn.«
»Die beiden haben sich gestritten. Der Haussegen hängt ziemlich schief.«
»Warum denn?«
»Percy will, dass Harriet das Baby selbst nährt, aber sie hat eine Amme engagiert.«
»Ach.«
»Percy sagt, das Ammenwesen sei ein übler Auswuchs, eine typische Erfindung der Aristokratie und der Anfang der Entfremdung von Mutter und Kind.«
»Aber warum holt sie eine Amme, wenn doch ihr Mann …«
»Harriet tut, was ihre Schwester Eliza sagt. Die ist um einiges älter und weiß alles besser.«
Nachdem Mary und Percy einander vorgestellt worden waren, kam der junge Mann erneut in die Skinner Street und traf Mary im Laden an, wo sie aushalf und Bücher sortierte. Er zog sie ohne viel Worte vor die Tür und lief mit ihr die Straße entlang.
»Ich muss dir sagen«, begann er, »dass ich förmlich erstarrt war, als ich dich gestern zum ersten Mal sah. Ich konnte nicht sprechen, ich konnte nur schauen. Denn du bist das Ebenbild deiner Mutter.«
Mary blieb stehen. Das Portrait ihrer Mutter hing im Arbeitszimmer des Vaters, es dominierte den gesamten Raum. Die zweite Mrs Godwin hatte schon mal den Vorschlag gemacht, es an einen weniger prominenten Ort zu hängen, weil, wie sie behauptete, es dort besser abzustauben wäre, aber darüber war mit Mr Godwin nicht zu reden. O ja, Mary Wollstonecraft war eine sehr hübsche Frau gewesen, und Mary, ihre Tochter, wusste, dass sie ihr glich. Es freute sie, dass Shelley das aufgefallen war. Sie wusste nicht, was sie hätte erwidern können und sagte deshalb nichts. Langsam gingen sie weiter.
»Die wiedergeborene Mary Wollstonecraft«, sagte Shelley andächtig und ergriff kurz ihre Hand. »Ich habe gehört, du schreibst Geschichten? Wie deine Mutter?«
»Wer hat das gesagt?«
»Fanny hat es gesagt. Und deine Stiefmutter. Sie hofft, dass du jetzt damit aufhörst und im Laden mit anpackst.«
Mary schnaufte. »Was die sich einbildet.«
»Ihr seid nicht gut aufeinander zu sprechen?«
»Sie kümmert mich nicht. Aber dass sie meinen Vater … dass sie ihn unmöglich glücklich machen kann, das quält mich.«
»Sie kocht gut.«
»Vater braucht noch andere Speise. Ich muss zurück in den Laden.«
Schweigend liefen die beiden nebeneinanderher. Mary war ganz ruhig. Sie hatte sich davor gefürchtet, zu Hause in den alten Trott zu fallen, sich mit ihrer Stiefmutter anzulegen und den ganzen Tag mit schlechter Laune rumzulaufen, aber jetzt erschienen ihr die Straße, das Haus und der Laden in hellen Farben. Sie verabschiedete sich von ihrem Begleiter und ging zurück zu ihren Büchern. Während sie die Bände ordnete und ins Regal stellte und sie wieder herausnahm, weil sie sich vertan hatte, dachte sie an Shelley. Er war anders zu ihr als die jungen Männer, die sie sonst kannte, zum Beispiel die Baxter-Jungen. Shelley flirtete nicht. Er war geradeaus und klar und ernst. Ein seltsamer Vogel, dachte sie.
Wann immer sie die Gelegenheit wahrnehmen und vor den Anweisungen der Stiefmutter flüchten konnte – es gab stets etwas zu tun im Laden und in der Küche, und Mrs Godwin liebte es, Befehle zu erteilen –, wann immer sie ein paar freie Minuten kommen sah, packte Mary Bücher, Stift und Notizheft in ihren Beutel, schlüpfte aus dem Haus und begab sich zum Friedhof St. Pancras, wo ihre Mutter begraben lag. Der Vater hatte ihr erzählt, dass sie, Mary, einst anhand der Buchstaben auf dem Grabstein lesen gelernt habe. Die Totengräber, der Friedhofsgärtner und so manche Witwe, sie kannten das zarte junge Mädchen mit dem wundervollen goldbraunen Haar, das so lange lesend neben dem Grab der Mary Wollstonecraft kauerte, und sie freuten sich, dass sie nach langer Pause jetzt zurückgekehrt war. Man wusste, wer sie war, und fand es gottwohlgefällig, dass die Waise auf diese Art die Nähe ihrer Mutter suchte. Niemand wagte sie zu stören, wie sie da vertieft schien in ihre Lektüre und ihre Notizen. Bis dann auf einmal jemand neben sie trat, ihr die Hand auf den Scheitel legte und »Guten Tag, Mary« sagte. Mary wusste gleich, wer es war, sie erschrak nur mäßig, schaute aber auf