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der Hand ein Buch, aus dem er augenscheinlich vorliest. Man erkennt den schönen Mann an seiner Haltung und an seinem dunklen Lockenhaar, auch an seinem verkrüppelten Fuß, den er entkleidet und auf einen Schemel hochgelegt hat. Auf dem Boden vor dem Kamin sitzt Shelley, er hält einen Schürhaken in der Hand, mit dem er in den Scheiten stochert, offenbar ganz begeistert von dem Funkenflug. Neben ihm steht an den Kaminsims gelehnt seine schlanke, graziöse Gefährtin Mary, ebenfalls mit einem Buch in der Hand – das sie aber geschlossen hält. Ihre brünette Stiefschwester Claire hat neben Byron Platz genommen, es sieht fast so aus, als wolle sie seinen Fuß mit einer Salbe kühlen. Ja, der englische Tourist hat davon gehört, dass diese kleine reizvolle Person die Geliebte Byrons sein soll. Ein Stück entfernt an einem Tischchen sitzt Mr Polidori und beobachtet die Szene, immer wieder wandert sein Blick zu Mary, die ihrerseits Shelley betrachtet. Was es für ein Text ist, den Byron da vorträgt, erfährt der spähende Landsmann natürlich nicht. Aber er hat so eine Ahnung: es ist höchstwahrscheinlich ein französisches Erotikon.

      Aber nein, da hat er unrecht. Byron liest tatsächlich Französisch, aber es ist eine übersetzte deutsche Geistergeschichte – eine sogenannte gothic story, und seine Zuhörerschaft gibt ihm nach und nach durch Gesten zu verstehen, dass sie sich nicht wirklich gruselt und von dieser literarischen Kost genug hat. Der Voyeur interpretiert die Bewegung, die jetzt in die Bewohner der Villa fährt, als Aufforderung Byrons, nach der erotisierenden Lektüre zur Praxis überzugehen und sich in den Schlafräumen zu treffen. Der englische Tourist stellt das Fernrohr ab und schüttelt den Kopf. Für heute hat er genug von solcher Amoral.

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      Was Byron wirklich sagte, war allerdings etwas ganz anderes. Er klappte das Buch zu, blickte in die Runde, sah die Enttäuschung in den Mienen seines kleinen Publikums und lachte.

      »Immer diese spukenden alten Rittersleut’«, seufzte Shelley. »Können wir das nicht besser?«

      »Immer diese alten deutschen Burgen mit den Falltüren«, sagte Mary, »das wird doch allmählich langweilig.«

      »Hey, ihr Lieben«, fiel Byron ein, »warum zeigen wir nicht, dass es anders geht? Lasst uns alle miteinander eine Gespenstergeschichte schreiben!«

      Der Zuspruch war einhellig, man ging auseinander und fing sogleich an zu projektieren, zu fantasieren, zu assoziieren, zu spinnen. Fast alle machten mit und versuchten sich nach dieser historischen Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1816 an einer gothic story. Polidori schrieb die Novelle Der Vampyr und lieferte damit den Startschuss des Dracula-Genres. Die beiden Poeten Shelley und Byron brachten es nur zu Fragmenten. Mary aber begann die Geschichte eines Studenten der Anatomie niederzuschreiben, der ein menschliches Wesen aus Leichenteilen zusammensetzt und es mit elektromagnetischen Impulsen zum Leben erweckt.

      Sie sollte als Siegerin aus diesem Wettbewerb hervorgehen. Ihr Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus begründete nicht nur ein neues literarisches Genre, die science fiction, er ist bis heute auf dem Buchmarkt präsent, wird gekauft und gelesen und ein ums andere Mal verfilmt. Ob das Lese- und Kinopublikum sich wirklich immer noch gruselt, wenn es sich auf diesen Roman einlässt? Darauf kommt es inzwischen gar nicht mehr an. Denn Frankenstein ist weit mehr als eine Gespenstergeschichte, er ist ein moderner Mythos.

       I »Die Liebe muss frei sein, damit sie Liebe bleibt«

      Erste Begegnungen

      »Er lebt noch!«, rief Shelley und schüttelte den Kopf – über sich selbst. Wie hatte er so unbedacht sein können! William Godwins großes Werk über Politische Gerechtigkeit war seit Jahren seine Bibel. Das Buch hatte gleich nach dem Erscheinen im Jahre 1793 – Shelley war damals gerade ein Jahr alt – für Aufsehen gesorgt, denn es entwarf eine Utopie, in der nichts mehr so sein würde wie derzeit im alten England. Und als der junge Dichter Percy Bysshe dieses Buch viele Jahre später zur Hand nahm, erschien es ihm wie ein Ruf aus einer verheißungsvollen Epoche: Revolution in Paris, Aufstand der Massen, Entmachtung des Klerus, Ende der Monarchie, Republik. Dabei nahm aber Godwin in seinem Werk Stellung gegen die Gewalt. Und er ging in der Theorie viel weiter als die Franzosen in der Praxis. Der Staat müsse überwunden werden, forderte er, und die Menschheit sich selbst regieren vermittels der ihr eingeborenen Vernunft. Seite für Seite zog der visionäre Philosoph Shelley in seine Gedankenwelt hinein, der Junge wurde sein eifriger Adept, trug das Buch stets bei sich und las sich selbst immer wieder laut daraus vor. Doch dann kam, abgesehen von einem Roman, einfach nichts Rechtes mehr von Godwin, jedenfalls nichts, was Shelley wahrgenommen hätte. Sein Lehrer war verstummt – seit nun schon über fünfzehn Jahren. Er ist wohl gestorben, hatte der Schüler bei sich gedacht, ich werde sein Andenken ehren. Und nun teilte ihm sein Freund, der Dichter Robert Southey, mit, dass Godwin in London eine Verlagsbuchhandlung betrieb, Schwerpunkt Kinderbücher. Es machte Shelley glücklich, sich vorzustellen, wie der Mann, dessen Werk ihn wie kaum ein anderes beeinflusst hatte, in einem Büro saß und eine Quartalsbilanz erstellte oder im Laden einem kleinen Jungen, der gerade lesen gelernt hatte, ein Buch empfahl. »Ich muss ihn treffen«, sagte Shelley zu sich selbst, »das Gespräch, das ich so lange in Gedanken mit ihm führe, muss weitergehen – im wirklichen Leben. Ich werde ihm schreiben.«

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      Das Schreiben von Briefen füllte einen großen Teil von Shelleys Zeit aus. Manchmal machte er den ganzen Tag nichts anderes – abgesehen vom Dichten natürlich. Und vom Lesen, das er ebenfalls mit ungeheuerlichem Eifer betrieb. Er las antike Autoren, französische Philosophen, deutsche Dichter, englische Klassiker, er las Platon und Lukrez, Rousseau und Condorcet, Goethe und Winckelmann, Shakespeare, Milton, Locke und immer wieder Godwin. Er las nicht nur in seinem Studierzimmer. Er las beim Spazierengehen, auf dem Lokus, in der Kutsche und beim Essen. Er hätte sehr gern noch im Schlaf gelesen, aber das gelang nicht. Immerhin las er des Nachts, wenn er aus einem Traum erwachte; lange lagen die Gedichte Robert Southeys neben seinem Bett. Dieser Schriftsteller war ihm durch sein Werk, das eine glühende Verteidigung der Französischen Revolution einschloss, ähnlich nahegekommen wie Godwin. Aber es gab auch immer wieder Ärger, denn Southey stand politisch aufseiten der Konservativen, der Torys, und das war für den Rebellen Shelley schwer zu ertragen. Southey seinerseits versuchte, den Atheisten Shelley davon zu überzeugen, dass der in Wahrheit sehr wohl an Gott glaube, dass er eben das Universum für Gott nehme. Woraufhin Shelley erwiderte, dass Gott nur eine Umschreibung für das Universum sei, man könne ihn ebenso gut weglassen. Wir, Du, ich, alle Menschen sind Teile eines unermesslichen Ganzen, schrieb er ihm. Southey war viel älter, er war erfahrener und vor allem vorsichtig geworden, was seine Sympathie für Revolutionen betraf. Shelley imponierte ihm wegen seiner Intelligenz, wegen der Wissensschätze, die er trotz seiner Jugend aufgehäuft hatte und wegen seines dichterischen Talentes, das außerordentlich schien. Und dann war dieser Knabe ein Freigeist, ein Freak, ein Radikaler. Das gefiel Southey, er sah sich vielleicht selbst in ihm, wie er früher einmal gewesen war und wollte ihn nicht wegen bloßer Meinungsverschiedenheiten als Freund verlieren. »Der einzige Unterschied zwischen uns beiden«, sagte er zu ihm, »ist, dass du neunzehn bist und ich siebenunddreißig.« Percy bewunderte Southey, er nannte ihn einen großen Mann, aber ihre politischen Differenzen führten schließlich zum Bruch. Zuvor jedoch hatte Southey seinen Freund auf die Spur eines anderen, für Shelley noch bedeutenderen Mentors gesetzt: William Godwin.

      Der folgenreichste Brief, den Percy Bysshe Shelley im Jahre 1812 schrieb, ging an die Adresse einer Verlagsbuchhandlung in der Londoner Skinner Street.

      Sie werden vielleicht überrascht sein, von einem gänzlich Fremden zu hören. Der Name Godwin erregt in meinem Innern Gefühle der Verehrung und Bewunderung, und gleich zu Beginn meiner Bekanntschaft mit Ihren Gedanken und Prinzipien hegte ich den glühenden Wunsch, auf der Basis persönlicher Nähe jenem Geist zu begegnen, der mir durch seine Entäußerung im Werk so hohen Genuss bereitet hat. Ich bin jung, ich brenne für die Sache der Menschheit und der Wahrheit. Glauben Sie nicht, dass es Eitelkeit sei, die mich dazu antreibt, mich selbst in dieser Art bei Ihnen einzuführen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich Ihrer

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