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dabei, gleichmütig und trotzdem energiegeladen in der Welt wirken zu können. Denn ohne eine Methode des Rückzugs und der Rückbindung an das beständig Heilsame laufen wir Gefahr, im selbstlosen Tun auszubrennen. Umgekehrt brauchen wir das sinnstiftende, gesellschaftliche Tun, um unsere Energie und unsere Einsicht in die Welt einzubringen und umzusetzen. Spiritueller Rückzug als alleinseligmachender Weg ist Weltflucht; ein Weg, der zwar keinen Schaden anrichtet, aber auch keinen Beitrag für ein erfüllendes Miteinander leistet.

      Wie kann man moralische Grundwerte üben?

      Sobald ein Yama definiert ist und uns klar geworden ist, warum es uns moralisch bedeutsam ist (ich nenne das im Folgenden »Moralitäts-Check«), können wir mit dem Üben beginnen. Ich möchte eine weitere These aufstellen: Moral, die nur im Kopf ist, wird möglicherweise im konkreten Tun schwer umsetzbar sein. Erstens, weil sie zu abstrakt ist und nicht auf die konkrete Handlung anwendbar scheint. Und zweitens, weil sie gar nicht verinnerlicht ist. Theoretisch ein Spiel beherrschen und die Regeln kennen ist etwas ganz anderes, als es praktisch geübt zu haben. Auch Moral braucht Übung. Ich habe daher zu jedem Yama vier Beispiele aus meinem Leben niedergeschrieben. Meine Gefühle haben mir die Fragen während des Schreibens eigentlich wie von selbst aufgetischt. Ich brauchte dann nur nachzufragen – warum, wieso? So, wie ich meine Schüler:innen im Yogaunterricht ermutige, mit wachem Forschergeist sich selbst bei der Asanapraxis zu beobachten, möchte ich mit meinen Geschichten in den fünf Abschnitten des vierten Kapitels anregen, die eigenen Alltagssituationen forschend unter moralischen Gesichtspunkten zu hinterfragen.

      Es geht dabei nicht darum, die Moralkeule zu schwingen à la »Du sollst« und »Du sollst nicht«! Vor der Moralkeule verstecken sich die Gefühle, sie haben Angst davor, geschlagen zu werden. Wenn wir aber die Gefühle zulassen und diesen inneren moralischen Zwiespalt, dann haben wir zumindest die Chance, dass irgendwann ein innerer Impuls auftaucht, wenn man so will, eine Hinwendung, ein Hinabsinken in den tieferliegenden moralischen Grund. Dieser kann uns dann Sicherheit geben, wie einem Baum, dem weitere Wurzeln wachsen.

      Moral soll sich stimmig anfühlen, soll diffuse Gefühle lichten, sorgenvolle Gedanken klären. Eine Moral, die nur funktioniert, wenn sie die Gefühle unter den Teppich kehrt, kann sich schwer festigen und wird vor allem dann Mühe haben, wenn es darauf ankommt. Wir müssen uns selbst vertrauen und uns Zeit geben. Übung hilft.

      Ich gebe mit diesen Beispielen von meinem Leben etwas preis, weil ich Menschen darin ermuntern möchte, eigene Erlebnisse zu durchdenken. Meine Geschichten sind nur Beispiele – vielleicht regen sie zum Nachdenken an, aber sie sollen keinesfalls ein »moralisch vorbildliches Verhalten« demonstrieren. Die Beispiele sind bedingt durch meine Interessen, meine Stärken und Schwächen und mein persönliches Umfeld. Natürlich habe ich eine gesellschaftspolitische Haltung, sonst würde ich ja nicht über so ein Thema ein Buch schreiben. Die Geschichten sollen aber vor allem zum Weiterdenken und Selbstfühlen anregen und ruhig auch – zum Bessermachen!

      Nur durch Durchdenken und Durchspüren kann man sich selbst besser kennenlernen und vielleicht das nächste Mal klarsichtigere Entscheidungen treffen. Wie das Leben eben so spielt, mal geht es leichter und fühlt sich freudvoll an, dann ist es wieder schwieriger, und Gefühle wie Hilflosigkeit und Traurigkeit stellen sich ein. Situationen wiederholen sich in ähnlicher Form. Darunter kann man leiden – oder man erkennt diesen wiederkehrenden Moment als zweite Chance.

      Selbstfürsorge oder die Rückbindung an das Selbst

      Im fünften und letzten Kapitel geht es dann um den Weg nach innen, die Rückbindung an das Selbst. Im Kontext von sozialer Verantwortung möchte ich diese Prozesse als Selbstfürsorge beschreiben, die im Yoga einen hohen moralischen Stellenwert hat. Das kann jetzt für manche Ohren, die es gewohnt sind, soziales Engagement mit Selbstaufopferung gleichzusetzen, befremdlich klingen. Genau darum ist es aber so wichtig zu verstehen, warum eigene Yogapraxis und ein Rückzug in Stille bedeutsam sind. Denn auch die beste Vision und die überzeugendste Moral bewahren uns nicht davor, im konkreten Tun auszubrennen. Dann nämlich, wenn wir uns mit unseren eigenen Erwartungen überfordern oder an den Spitzfindigkeiten der Realität zerbrechen.

      Erst diese Rückbindung an meine inneren Ressourcen regeneriert mich und lässt mich wieder hinspüren zu dem, was es jetzt gerade braucht – für mich. Passt mein Engagement noch? Oder halte ich nurmehr an einem Dogma fest, das meine »inneren Antreiber« von mir einfordern? Die fünf Niyamas, moralische Verhaltensregeln uns selbst gegenüber, können uns helfen, unbeschadet durch einen Verantwortungsprozess zu kommen.

      Zu jedem der fünf Niyamas habe ich abschließend vier Stilleübungen entwickelt. Eine Auswahl von fünf Übungen gibt es über einen QR-Code und einen Downloadlink auf Seite 221 auch zum Nachhören. Der Atem wird dabei unser freundlicher Reisebegleiter werden. Hier findet sich also die Brücke von der moralischen hin zur spirituellen Praxis. Es sind meditative, selbstreflexive Übungen mit sehr unterschiedlichem Fokus. Patanjali, der offizielle Verfasser der Yoga-Sutren, beschreibt eine Fülle von Methoden, wie der Weg in den stillen Rückzug, im Rückzug der Sinne von außen, gestaltet werden könnte. Wir haben gerade hier eine große Gestaltungsfreiheit und Wahlmöglichkeiten. Natürlich ist es vertiefend sinnvoll, sich einer ehrenwerten Tradition zu verpflichten und dann diese Form von Meditation, am besten in einer Gruppe, jahrelang zu üben. Vielleicht helfen Ihnen die verschiedenen Einstiegsmöglichkeiten ja dabei, auf den Geschmack zu kommen.

      2. Kapitel

       Die Geschichte der sozialen Verantwortung

       »Wer über Verantwortung schreibt – und auch liest –, mag bisweilen an ihrer Vielschichtigkeit verzweifeln. Eine Unzahl an Aspekten scheint sich einer eindeutigen Klassifikation zu erwehren.«

      Ann Elisabeth Auhagen5

      Ein aufklärerischer Appell an die Eigenverantwortung

      Eine bedeutende moralische Zeitenwende in Europa war die Epoche der Aufklärung, als deren berühmtester deutschsprachiger Philosoph, Immanuel Kant, in die Geschichte eingegangen ist. 1785 veröffentlichte er in Riga ein Buch mit dem Titel »Kritik der praktischen Vernunft«. Ich habe es mir aus Interesse gekauft, weil ich diesen Meilenstein an Denkkraft und Vernunft selbst in Händen halten wollte. Lesen kann ich den Text ehrlich gesagt nicht. Das ist etwas für Spezialist:innen. Aber diesen einen, so berühmt gewordenen Leitsatz, den möchte ich hier doch anführen:

       »§ 7. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.« Und Kant erklärt: »Denn reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend.«6

      Ich erkläre mir diesen Appell an die Ratio so: »Denk mal nach! Willst du wirklich, dass das, was du dir jetzt gerade für dich herausnimmst, zum allgemeingültigen Gesetz wird, und dass alle anderen auch so handeln können?« Es ist ein erster, großer Appell an die Eigenverantwortung, die wir heute, mehr denn je, aufgeregt diskutieren, ob es nun um Corona-Selbstbeschränkungen oder um richtiges Handeln zum Schutz der Umwelt geht. Denn es dämmert uns langsam, dass wir uns nicht nur auf staatliche Gesetze oder religiöse Gebote bzw. Verbote berufen, verlassen oder herausreden können, sondern endlich beginnen müssen, situativ und eigenverantwortlich zu entscheiden – allerdings im Bewusstsein, dass unser individuelles Verhalten auch dem Wohl der Gemeinschaft förderlich sein sollte. Kant stellte das schon

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