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hinauf nach Hause. Es war später Nachmittag, und die Hitze drückte uns körperlich nieder, als hätte sie um diese Zeit eine besondere Schwerkraft. Veronica meinte, seit ihrem Tunesienurlaub sei ihr nicht mehr so heiß gewesen. Vor uns liefen Avril und Jochen, Hand in Hand, in ein Gespräch vertieft.

      »Was reden die beiden so viel?«, fragte Veronica. »Die haben doch noch gar nichts erlebt.«

      »Als hätten sie die Sprache eben erst entdeckt«, sagte ich. »Du weißt schon: Wenn ein Kind erst mal Seilspringen gelernt hat, hört es überhaupt nicht mehr auf zu springen.«

      »Ja, also reden können sie wirklich …« Sie lächelte. »Hätte ich doch einen kleinen Jungen! Einen großen, starken Mann, der sich um mich kümmert.«

      »Wollen wir tauschen?«, sagte ich unüberlegt, aus irgendeinem dummen Grund, und fühlte mich plötzlich schuldig, als hätte ich Jochen irgendwie verraten. Er hätte das nicht witzig gefunden und mich angeschaut mit seinem strengen, finsteren, gekränkten Blick.

      Wir hatten unsere Straßenecke erreicht. Ich bog links in die Moreton Road, zu unserem Zahnarzt, Veronica und Avril mussten weiter bis nach Summertown, wo sie über dem italienischen Restaurant La dolce vita wohnten – ihr gefiel diese tägliche Ironie, meinte sie, das ewige leere Versprechen. Als wir noch dastanden und vage Pläne für einen Bootsausflug am Wochenende schmiedeten, brachte ich plötzlich das Gespräch auf meine Mutter Sally/Eva. Wenigstens mit einem Menschen musste ich darüber reden, bevor ich meine Mutter wiedersah, dachte ich mir, vielleicht half mir das, die neuen Tatsachen leichter zu verkraften – und meiner Mutter gegenüberzutreten. Es würde kein Geheimnis zwischen Mutter und Tochter bleiben, wenn auch Veronica Bescheid wusste – ich brauchte eine außerfamiliäre Stütze, um nicht den Halt zu verlieren.

      »Mein Gott«, sagte Veronica. »Eine Russin?«

      »Ihr richtiger Name ist Eva Delektorskaja, sagt sie.«

      »Und geht es ihr gut? Oder vergisst sie Namen, Daten, Sachen?«

      »Nein, ihr Verstand ist messerscharf.«

      »Geht sie oft weg und kommt zurück, weil sie nicht mehr weiß, wohin sie wollte?«

      »Nein«, sagte ich, »ich glaube, man muss davon ausgehen, dass alles in Ordnung mit ihr ist«, und erzählte weiter. »Dann macht sie noch etwas, es ist fast eine Art Manie. Sie glaubt, dass sie beobachtet wird. Vielleicht auch eine Art Paranoia … Sie ist misstrauisch gegen Sachen, gegen Menschen. Ach, und dann hat sie einen Rollstuhl – angeblich, weil sie sich den Rücken verletzt hat. Aber das stimmt nicht, sie ist fit wie ein Turnschuh. Sie denkt, dass irgendwas im Gange ist, irgendwelche dunklen Machenschaften, die sich gegen sie richten, und deshalb hat sie beschlossen, mir alles zu sagen, die ganze Wahrheit.«

      »War sie beim Arzt?«

      »O ja. Der Arzt hat das mit dem Rücken geglaubt und ihr den Rollstuhl besorgt.« Ich überlegte kurz und erzählte ihr auch noch den Rest. »Sie sagt, sie wurde 1939 vom britischen Geheimdienst rekrutiert.«

      Veronica musste lächeln, doch dann zeigte sie Betroffenheit. »Aber abgesehen davon scheint sie völlig normal?«

      »Definier mir doch ›normal‹«, erwiderte ich.

      Wir trennten uns, und ich lief mit Jochen durch die Moreton Road. Mr Scott, der Zahnarzt, der gerade in seinen neuen Triumph Dolomite stieg, stieg wieder aus und machte eine Show daraus, Jochen Pfefferminz anzubieten – das machte er immer, wenn er Jochen sah, und er war immer mit allen möglichen Sorten und Arten von Pfefferminz ausgerüstet. Als er rückwärts rausgefahren war, gingen wir am Haus vorbei nach hinten zu unserem »Stufengang«, wie Jochen die Eisentreppe nannte, die uns einen eigenen Zugang zu unserer Wohnung im ersten Stock ermöglichte. Der Nachteil war nur, dass alle durch die Küche mussten, aber das war besser, als durch die Praxis mit ihren penetranten Gerüchen zu gehen – Mundwasser, Zahnpasta und Teppichreiniger.

      Wir aßen Käsetoast und Baked Beans zum Abendbrot und sahen einen Film über ein kleines, rundes orangerotes U-Boot, das den Meeresboden erforschte. Ich brachte Jochen ins Bett, ging ins Arbeitszimmer und suchte den Hefter mit meiner halbfertigen Doktorarbeit: »Revolution in Deutschland, 1918–1923«. Ich schlug das letzte Kapitel auf – »Der Fünffrontenkrieg Gustavs von Kahr« –, versuchte mich zu konzentrieren und überflog ein paar Absätze. Seit Monaten hatte ich nichts mehr dafür getan, und es war, als würde ich einen fremden Text lesen. Zum Glück hatte ich den faulsten Doktorvater von ganz Oxford – ein ganzes Semester konnte ohne einen einzigen Termin vergehen –, und ich unterrichtete Englisch als Fremdsprache, kümmerte mich um meinen Sohn, besuchte meine Mutter und tat sonst nichts, wie es schien. Ich war in der Lehrerfalle gefangen, ein allzu gängiges Schicksal für so manchen Oxford-Absolventen. Ich verdiente sieben Pfund steuerfrei pro Stunde, und wenn ich wollte, konnte ich acht Stunden am Tag unterrichten, zweiundfünfzig Wochen im Jahr, und selbst wenn ich die Zeit abzog, die ich mit Jochen verbrachte, würde ich in diesem Jahr über achttausend Pfund netto verdienen. Die letzte Stelle, um die ich mich vergeblich beworben hatte, eine Geschichtsdozentur an der University of East Anglia, bot (brutto) nur annähernd die Hälfte von dem, was ich mit dem Unterrichten für Oxford English Plus verdiente. Eigentlich konnte ich mich über meinen Reichtum freuen: keine Mietschulden, ein ziemlich neuer Wagen, Schulgebühren bezahlt, Kreditkarte im grünen Bereich, ein bisschen Geld auf der Bank – aber stattdessen überfielen mich plötzlich das Selbstmitleid und die Wut. Wut auf Karl-Heinz, Wut, weil ich nach Oxford zurückmusste, Wut, weil ich ausländischen Studenten für schnelles Geld Englisch beibringen musste, Wut (und entsprechende Schuldgefühle), weil mein kleiner Sohn mir meine Freiheiten beschnitt, Wut auf meine Mutter, die plötzlich mit dieser abenteuerlichen Geschichte über ihre Vergangenheit herausrückte … So war das alles nicht geplant gewesen, das war nicht das Leben, das ich mir ausgesucht hatte. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt. Was war passiert?

      Ich rief meine Mutter an. Eine merkwürdig tiefe Stimme meldete sich.

      »Ja.«

      »Mummy? Sal? – Ich bin’s.«

      »Alles in Ordnung?«

      »Ja.«

      »Dann ruf mich gleich zurück.«

      Ich tat es. Das Telefon klingelte viermal, bevor sie abnahm.

      »Du kannst nächsten Samstag kommen«, sagte sie, »und mir ist es recht, wenn du Jochen hierlässt. Er kann hier übernachten, wenn du möchtest. Tut mir leid wegen letztem Wochenende.«

      »Was ist das für ein Klicken?«

      »Das bin ich. Ich klopfe mit dem Bleistift an den Hörer.«

      »Und was soll das?«

      »Ein Trick. Um Leute zu irritieren. Verzeih, ich höre schon auf.« Sie zögerte kurz. »Hast du gelesen, was ich dir gegeben habe?«

      »Ja. Ich hätte schon früher angerufen, aber ich musste es erst mal verdauen. Ein kleiner Schock, wie du dir denken kannst.«

      »Ja, natürlich.« Sie schwieg einen Moment. »Aber ich wollte, dass du’s erfährst. Es war der richtige Zeitpunkt.«

      »Ist das alles wahr?«

      »Natürlich. Jedes Wort.«

      »Das heißt also, dass ich Halbrussin bin.«

      »Ich fürchte, ja, Liebling. Aber eigentlich nur Viertelrussin. Meine Mutter, deine Großmutter, war Engländerin, erinnerst du dich?«

      »Wir müssen darüber reden.«

      »Da kommt noch mehr auf dich zu. Viel mehr. Du wirst alles verstehen, wenn du den Rest erfährst.«

      Dann wechselte sie das Thema und fragte nach Jochen, wie sein Tag gelaufen war, ob er etwas Ulkiges gesagt hatte, und während ich von ihm erzählte, braute sich etwas in meinem Bauch zusammen, als müsste ich dringend aufs Klo – es war die plötzliche Angst vor dem, was mir bevorstand, und die kleine, nagende Furcht, dass ich es nicht verkraften würde. Es komme noch mehr auf mich zu, hatte sie gesagt, viel mehr – was war dieses »Alles«, das ich am Ende verstehen würde? Wir redeten noch Belangloses, verabredeten

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