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      »Nein, guter Gott, nein! Wie kommen Sie darauf? Nein – er ist der Bruder von Jochens Vater, der jüngere Bruder von Karl-Heinz. Nein, nein, absolut nicht.« Ich lachte nervös und stellte fest, dass ich sechsmal verneint hatte. Stärker hätte man ein Nein nicht unterstreichen können.

      Hamid versuchte vergeblich, seine Erleichterung zu verbergen. Sein Grinsen wirkte fast idiotisch.

      »Oh. Schon gut. Nein, ich dachte …« Er hob die Hände. »Verzeihen Sie, ich sollte nicht solche Verschlüsse ziehen.«

      »Rückschlüsse.«

      »Rückschlüsse. Also: Er ist Jochens Onkel.«

      Das stimmte, aber ich musste zugeben, dass ich Ludger Kleist noch nie so gesehen hatte (er war nicht im Geringsten onkelhaft – allein die Verbindung »Onkel« und »Ludger« löste bei mir Grusel aus), und tatsächlich hatte ich ihn auch Jochen als »Freund aus Deutschland« vorgestellt, und bisher hatten sie sich nicht näher kennenlernen können, weil Jochen zu einem Kindergeburtstag gegangen war. Ludger sagte, er wolle »ein Pub« besuchen, und als er am Abend zurückkam, war Jochen schon im Bett. Die Onkelbeziehung musste also warten.

      Ludger schlief auf einer Luftmatratze in dem Zimmer, das wir als Esszimmer bezeichneten – zu Ehren der einzigen Dinnerparty, die ich seit meinem Einzug gegeben hatte. Es war, zumindest theoretisch, das Zimmer, in dem ich meine Dissertation schrieb. Auf dem ovalen Tisch stapelten sich Bücher, Notizen und die Entwürfe meiner verschiedenen Kapitel. Entgegen den staubigen Tatsachen hielt ich an dem Glauben fest, dass dies das Zimmer war, in dem ich an meiner Dissertation arbeitete – schon sein Vorhandensein, seine Bestimmung und seine Aufteilung schienen meinem Wunschdenken Realität zu verleihen, oder wenigstens ein bisschen: Dies war der Schauplatz meiner geruhsam-wissenschaftlichen Existenz – mein verworren-chaotisches Alltagsleben nahm die übrige Wohnung ein. Das Esszimmer war meine diskrete kleine Zelle des geistigen Beharrens. Doch mit wenigen Handgriffen zerstreute ich diese Illusion: Wir schoben den Tisch an die Wand; wir legten Ludgers Luftmatratze auf den Teppich, und aus dem Esszimmer war wieder ein Gästezimmer geworden – eins, in dem sich Ludger sehr wohlfühlte, wie er behauptete.

      »Wenn du wüsstest, wo ich schon überall geschlafen habe«, sagte er und zog das rechte Augenlid nach unten. »Mein Gott, Ruth, für mich ist das hier das Ritz.« Und dann stieß er einen dieser schrillen Lacher aus, die ich besser kannte, als mir lieb war.

      Wir, Hamid und ich, wandten uns den Ambersons zu. Die Familie will in die Ferien fahren, nach Dorset, doch Keith Amberson kann das Auto nicht starten. Jede Menge Verben im Conditional Perfect. Ich hörte Ludger durch die Wohnung laufen.

      »Bleibt Ludger lange?«, fragte Hamid. Offenbar hatten wir beide nur Ludger im Sinn.

      »Ich glaube nicht«, erwiderte ich, wobei mir einfiel, dass ich ihn noch gar nicht gefragt hatte.

      »Sie sagten, Sie hätten ihn für tot gehalten. War es ein Unfall?«

      Ich beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. »Man hatte mir gesagt, er sei von der westdeutschen Polizei erschossen worden. Aber das war offensichtlich nicht der Fall.«

      »Von der Polizei erschossen? Ist er ein Verbrecher?«

      »Sagen wir, ein Radikaler. Eine Art Anarchist.«

      »Und warum ist er dann hier?«

      »In ein paar Tagen wird er weg sein«, log ich.

      »Ist es wegen Jochens Vater?«

      »Sie haben aber viele Fragen, Hamid.«

      »Entschuldigung.«

      »Ja – ich glaube, ich lasse ihn für ein paar Tage bei mir wohnen, weil er der Bruder von Jochens Vater ist … Aber wollen wir nicht lieber weitermachen? Also: Will Keith get his car fixed? What should Keith have done?«

      »Sind Sie immer noch in Jochens Vater verliebt?«

      Ich starrte ihn verdattert an. Hamids braune Augen waren auf mich gerichtet, bohrend, intensiv.

      »Nein«, sagte ich. »Natürlich nicht. Ich habe ihn vor fast zwei Jahren verlassen. Deshalb bin ich mit Jochen nach Oxford zurückgezogen.«

      »Gut«, sagte er, sichtlich erleichtert. »Ich musste es nur wissen.«

      »Warum?«

      »Weil ich Sie gern zum Essen einladen würde. In ein Restaurant.«

      Veronica war bereit, Jochen zum Abendbrot mit nach Hause zu nehmen, und ich fuhr nach Middle Ashton hinaus, um mit meiner Mutter zu reden. Als ich dort ankam, kniete sie im Garten und schnitt den Rasen mit der Gartenschere. Rasenmäher lehnte sie ab; Rasenmäher verabscheute sie; Rasenmäher seien der Tod des englischen Gartens, wie er sich über Jahrhunderte gehalten habe, behauptete sie; Capability Brown und Gilbert White hätten keine Rasenmäher gebraucht; in einem echten englischen Garten dürfe das Gras nur von Schafen abgeweidet oder mit der Sense gemäht werden – und da sie keine Sense besaß oder nicht benutzen konnte, machte es ihr nichts aus, alle zwei Wochen mit der Gartenschere auf den Knien herumzukriechen. Der moderne englische Rasen sei ein abscheulicher Anachronismus, gestreiftes, geschorenes Gras eine grässliche moderne Erfindung – und so weiter und so fort. Ich kannte diese Reden schon und hütete mich, zu widersprechen (doch sie fand nichts dabei, mit dem Auto zum Einkaufen zu fahren, obwohl Capability Brown oder Gilbert White anno dazumal ganz sicher eine Kutsche benutzt hatten). Folglich war ihr Rasen struppig und zerzaust, voller Gänseblümchen und anderem Unkraut – und genau so muss ein Cottage-Rasen aussehen, hätte sie verkündet, hätte ich ihr Gelegenheit dazu gegeben.

      »Wie geht’s deinem Rücken?«, fragte ich.

      »Heute schon ein bisschen besser«, antwortete sie. »Trotzdem wollte ich dich bitten, mich nachher zum Pub zu schieben.«

      Wir setzten uns in die Küche, wo sie mir ein Glas Wein und sich selbst Apfelsaft eingoss. Sie trank nicht, meine Mutter. Ich hatte sie nie auch nur an einem Sherry nippen sehen.

      »Rauchen wir eine«, sagte sie, also zündeten wir eine Zigarette an, pafften vor uns hin, redeten über Nebensächliches und schoben die große Aussprache vor uns her, die, wie wir beide wussten, in der Luft lag.

      »Hast du dich ein bisschen entspannt?«, fragte sie. »Ich konnte sehen, wie nervös du warst. Warum sagst du mir nicht, was los ist? Liegt es an Jochen?«

      »Nein, an dir, zum Teufel noch mal. An dir und an ›Eva Delektorskaja‹. Mir ist das alles schleierhaft. Überleg doch mal, wie das bei mir ankommt, so völlig aus dem Nichts, ohne dass ich je davon geahnt hätte. Ich bin total fertig.«

      Sie zuckte die Schultern. »Das war zu erwarten. Es ist ein Schock, ich weiß. An deiner Stelle wäre ich auch ein bisschen schockiert, ein bisschen verstört.« Ihr Blick kam mir seltsam vor; kalt, analytisch, als wäre ich jemand, den sie gerade kennenlernt. »Du glaubst mir nicht so richtig, oder?«, sagte sie. »Du denkst, ich hab nicht alle Tassen im Schrank.«

      »Natürlich glaube ich dir. Was denn sonst? Es ist nur so schwer, das zu verkraften – alles auf einmal. Dass nun alles ganz anders ist, alles, was ich mein Leben lang geglaubt habe, soll plötzlich nicht mehr wahr sein.« Ich zögerte kurz und gab mir einen Ruck. »Na los, sag etwas auf Russisch!«

      Sie sprach zwei Minuten lang Russisch, wurde dabei immer wütender und stieß den Finger in meine Richtung.

      Ich war wie vor den Kopf geschlagen – es war wie eine Besessenheit, ein Reden in Zungen. Mir blieb die Luft weg.

      »Mein Gott«, rief ich. »Wovon hast du denn geredet?«

      »Von der Enttäuschung, die mir meine Tochter bereitet. Meine Tochter, die eine intelligente und eigensinnige junge Frau ist und die, hätte sie nur ein bisschen mehr ihrer beträchtlichen Geisteskraft darauf verwendet, logisch über das nachzudenken, was ich ihr erzählt habe, in etwa dreißig Sekunden begriffen hätte, dass ich ihr niemals solche üblen Streiche spielen würde. So, nun weißt du’s.«

      Ich trank meinen Wein aus.

      »Wie also

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