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Diese nun die historische Wissenschaft allererst ermöglichende Haltung wird aber später, wo sich Baeck ausdrücklich mit „jeder Romantik“ auseinandersetzt, der Unfähigkeit geziehen, das „Kulturproblem“ zu lösen. Romantik, das ist in Baecks Augen Selbstsucht und Genußsucht, eine ethisch unverantwortliche Haltung, die sich alleine der Hinwendung zum Fühlen der einzelnen Individuen, dem Selbstgenuß widmet und dabei das Arbeits- und Kulturleben, ja jeden Lebenszusammenhang entwertet. Der romantischen Religion, für Baeck am reinsten im paulinischen Typ der Frömmigkeit sowie in Luthers Glaubenserfahrung verkörpert, fehle jedes Motiv und jede Notwendigkeit, sich dem Staats- und Wirtschaftsleben zuzuwenden und damit sei sie aus internen, strukturellen Gründen unfähig, das „Kulturproblem“ zu lösen:

      „Immer bleibt die lebendige Kultur ein Draußen, ob nun deshalb, weil sie, wie dort, bestritten wird, oder, wie hier, weil kein gerader gewiesener Weg zu ihr hinführt… Der eigentlich romantische, paulinische Glaube mit seiner Heteronomie des Lebens, mit der Passivität, auf die er sich gründet, kann einer Kultur, zumal der sozialen, die ihre Daseinskraft in dem Gebote der Verwirklichung hat, das an den Menschen ergeht, nur fremd gegenüberstehen. Er kann nicht prinzipiell, sondern nur nachträglich den Aufgaben gerecht sein, die die soziale Aufgabe dem Menschen stellt.“64

      Die romantische Religion, die Baeck am reinsten im Christentum mit Ausnahme des Calvinismus verkörpert sieht, kulminiert im Glauben an den einzigartigen Tod Jesu, die Heiligung von Sakramenten, damit an Autorität und Dogmen wie Sentimentalität. Dogmen und Autorität fungieren mit all ihren freiheitseinschränkenden Elementen als notwendiges Gegengewicht wider eine religiöse Haltung, die jedes bestimmende innere Gesetz ablehnt. Daher rührt auch die Zentralität des Erlösungsbegriffs in der romantischen Religion, die freilich mit den „Mühen und Aufgaben des inneren Lebens“65 nichts zu tun habe und von innerem Ringen und Gewissenskämpfen nichts wisse, ebensowenig wie von menschlicher Freiheit. Indem die romantische Religiosität den Erlösungsgedanken in die Gottheit selbst hineintrage, verlängere sie die menschliche Selbstsucht und komme so zu einem Gott, der paradoxerweise in seinem Kreisen um sich selbst den Menschen nicht beistehen könne. Dabei weiß der Kritiker dieser Metaphysik, daß jedenfalls bei Paulus selbst erhebliche Bestandteile der alttestamentlichen Ethik vorhanden sind. Diese Analyse scheint mit dem missionarischen Auftrag der Kirche, sich um das Wohl nicht nur des Nächsten, sondern aller Menschen zu kümmern, auf den ersten Blick unvereinbar. Baeck zögert nicht, diesen Missionierungsdrang den jüdischen Wurzeln des Christentums und die Fortsetzung der Mission nach dem dritten Jahrhundert dann vor allem den Eigeninteressen dieser Institution, Zwang und Kontrolle auszuüben, zuzuschreiben. Der Umschlag von Empfinden in Zwang schließt nach Baeck notwendig einen Kreis:

      „Daß das Empfinden alles bedeuten soll, darin liegt das Eigentümliche, das Wesentliche der Romantik. Es kann ihre Kraft sein, daß sie sich versenkt, daß sie aus starken Gefühlen schöpft, und es ist ihre Zartheit, daß sie das Schwebende, Webende erfährt.“66

      Das ist nicht ohne Wärme gesprochen und Baeck, der als Schüler Wilhelm Diltheys mit dem Werk Schleiermachers aufs Beste vertraut war, weiß wovon er spricht. Als ob er jedoch schließlich merkte, daß er mit seiner Kritik der romantischen Gefühlswelt auch seinem eigenen wissenschaftlichen Werk den Boden unter den Füßen hinwegzieht, sieht er sich schließlich genötigt, den eigenen, selbst proklamierten Klassizismus so zu modifizieren, daß die Möglichkeit eines tieferen Verständnisses irrationaler Kräfte möglich wird. Der Preis für diese Rettung aus einem selbst zu verantwortenden Dilemma besteht in einer nun wahrlich irrationalistischen Lebensphilosophie, die ihren Halt alleine in der Eindeutigkeit des Gesetzes findet: Für die klassische Religion offenbare sich das Seiende „aus dem Irrationalen hervor, dem Ich zurufend, dieses Wirkliche und Gebietende, das, worin alles, was ist und sein soll, verwurzelt ist, das, worin Geschöpf und Schöpfer sich treffen. In ihr ist das Irrationale die tiefe Wahrheit des Lebens, der tiefe Grund darum auch des Gesetzes, die tiefe Bürgschaft der Gewißheit, der ‚Arm der Ewigkeit‘, der alles umfaßt. In ihr bedeutet es das Heilige, diesen Bund zwischen dem Ewigen und dem Menschen.“67

      Gerade im Unterschied zur romantischen Religion komme so die klassische Religion zu einer angemesseneren Auffassung des Irrationalen, insofern sie in ihm jene wahrhaft unableitbare Größe, nämlich das Leben selbst, identifiziere. Sich in diesem Leben, Gottes Gebote verwirklichend, zu sittlichen Zielen zu bestimmen, verweist auf eine Zukunftsorientierung, der es der romantischen Religion, die nur auf ihren göttlichen Ursprung zurück hin ziele, ermangele. Inwieweit diese Charakterisierung dem Werk Paulus’ und Luthers wirklich angemessen ist, sei hier dahingestellt; daß zumindest das frühe Christentum, nicht anders als Teile des gleichzeitigen Judentums, die Zukunft durchaus, wenn auch in apokalyptischer Hinsicht, in den Blick nahm, konnte Baeck kaum entgangen sein.

      V.

      In seiner 1938 erschienenen Studie über Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, der wohl ersten von profunden Kenntnissen getragenen neutestamentlichen Studie eines gläubigen Juden, sieht sich Baeck vor der Aufgabe, Überlieferungsgeschichte und Überlieferungskritik so zu betreiben, daß der jüdische Charakter des Christentums unübersehbar wird. Das scheinbar paradoxe Entstehen der romantischen Religion par excellence, des Christentums, aus der klassischen Religion par excellence, dem Judentum, erklärt sich dieser jüdische Neutestamentler hier mit einer eigentümlichen Theorie der Tradition, in der sich das geisteswissenschaftliche Programm mitsamt seiner Feier der schöpferischen Individualität vollendet:

      „Alle Tradition hat ihre Schicksale, und im Judentum jener Tage sind sie an ihr ganz eigentümlich aufgezeigt. Sie ist Menschen anvertraut, und sie geht damit durch menschlichen Geist, durch menschliche Individualität, an der sie sich bricht, hindurch. Ungewollt und unbewußt gibt der Überliefernde von dem Persönlichen, Eigenen, dem Kleinen oder Großen, das in ihm ist, von seinen Hoffnungen, seiner Sehnsucht und seinem Glauben das hinein, was er als Wort oder als Erlebnis des Meisters in seiner Erinnerung trägt.“68

      Die menschliche Individualität also schafft die Tradition – es sind weniger die vorgegebenen Inhalte und Themen denn die Art und Weise, wie die Individuen sie, bewußt oder eben unbewußt, verändern. Indem an dieser Stelle der Tradierungsprozeß auf unbewußte, ja, ungewollte Modifikationen seitens der Empfänger der Botschaft umgestellt wird, erhält zugleich das von Baeck gezeichnete Bild dessen, was eine Persönlichkeit ist, neue Konturen. Ganz im Einklang mit seiner lebensphilosophischen Theorie des Irrationalen werden Menschen, werden Persönlichkeiten damit zu in ihren Strebungen mindestens partiell verständlichen Autoren ihres Werks, aus dem sie letztlich ihre Bedeutung erhalten. Dabei ist die Frage nach dem eigentümlichen Spannungsverhältnis von vorgegebener Überlieferung und individueller Weiterentwicklung Baeck bewußt: dort, wo die Überlieferung nicht in einen strengen Rahmen gestellt ist, „hat nur zu leicht die Seele des Überliefernden hinzugefügt und hinweggenommen und umgeformt.“69 Über Wahrheitsansprüche der je nachdem geschlossen überlieferten oder individuell modifizierten Texte ist damit nichts gesagt – in der Logik des Programms läge es, sie in eben diesen individuellen Einschüssen zu sehen. Die Quellen werden genau dann verändert und damit neu geschrieben, wenn die jeweilige Überlieferung sich auf die „letzten und endgültigen Fragen des Lebens und damit zu dem Entscheidenden und Persönlichsten des Überlieferten hinbewegt.“70 Entscheidungszwang der Lebensführung und fromme, dichtende Phantasie schießen so zu neuen Verbindungen von Gedanken und Bildern zusammen, „wie er sich in jedem Geiste regt, und wie er dem jüdischen Denken damals besonders eigen war.“71 Die Analyse der neutestamentlichen Schriften gibt Baeck so die Gelegenheit, seine eigene Variante des von Wilhelm Dilthey methodologisch eingeführten hermeneutischen Zirkels zu entfalten. Widerstreit und Zusammenspiel von Individuum und vorgebenem Text, der seinerseits als Korpus mythischer Erzählungen Handlungsmöglichkeiten vorgab, ermöglichen es den jeweiligen Lesern und Hörern, ihr eigenes Geschick in bereits vorgegebenen Mustern zu deuten, während die vorgegebenen Texte durch die aktualisierende Interpretation neues Leben erhalten:

      „Im Heute formte sich die alte Kunde, in dem Tag, durch den man schritt, gewann das, was die Bibel erzählte oder was man durch frühere Geschlechter gehört hatte, seinen Sinn und seine Zeichnung. Vergangenheit wurde zur Gegenwart, Gegenwart

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