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Die Gratwanderung zwischen zu viel und zu wenig

       Zum Verständnis:

      Die Depression ist eine Lebensphase, die von starker Instabilität geprägt ist, sowohl seelisch als auch körperlich. Sie haben wechselnde Stimmungen, fühlen sich körperlich mal völlig erschöpft, mal hoch angespannt und getrieben. Mal überschlagen sich die Gedanken, mal haben Sie einen völlig leeren Kopf, der nichts verarbeiten mag. Die „Mitte“, das normale nüchterne Denken, das Sie von sich kennen, ist Ihnen mehr oder weniger abhandengekommen. Insbesondere am Anfang ist es eine wirkliche Gratwanderung zu entscheiden, was für Sie im Moment gerade zu viel und was zu wenig ist.

      Sie haben vielleicht schon Ratschläge gehört wie diese: Du musst dich jetzt mal gründlich ausruhen! Oder: Du solltest jetzt ganz viel Sport machen und aktiv werden! Oder: Du solltest dich jetzt mal völlig zurückziehen! Oder: Du darfst jetzt auf keinen Fall allein sein!

      Es geht einerseits darum, sich nicht zu überfordern, und andererseits darum, nicht in Lethargie abzurutschen und mit der Zeit ein Gefühl dafür zu bekommen, was guttut und was nicht.

      Ich betone diese Herangehensweise deshalb, weil jede Überforderung, aber auch jede Unterforderung Stress erzeugt. Im Gehirn werden dann wieder zu viele Stresshormone ausgeschüttet und wertvolle Neurotransmitter verbraucht. Sowohl Lethargie als auch übersteigerte Anstrengung müssen deshalb vermieden werden.

      Wie kommt es, dass in der Depression so leicht die Gefahr besteht, sich entweder zu überfordern oder im Gegenteil in die völlige Passivität abzugleiten? Wir haben weiter vorn von den Stimmungsschwankungen gesprochen. Die depressiven Gefühlszustände sind mal sehr schlimm und manchmal sind sie auch völlig verschwunden, sodass die Betroffenen meinen, nun seien sie wieder fit. Da die Sehnsucht groß ist, möglichst schnell wieder normal zu funktionieren, ist die Versuchung groß, dass Sie Ihre Belastbarkeit überschätzen, sobald Sie sich nur ein wenig besser fühlen. Das bisschen mehr an Energie wird dann oft in Aktionen umgesetzt, die Sie noch überfordern.

      Ich erinnere mich an eine Patientin, die in einem Anflug von Euphorie mit Freunden eine eintägige Städtereise machte, um eine Freizeitmesse zu besuchen. Sie waren vierzehn Stunden unterwegs. Es war ein tolles Erlebnis, doch war die Patientin danach zwei Wochen lang in einem heftigen Stimmungstief. Offensichtlich hatte sie die Reise nur unter Aufbietung von sehr viel Adrenalin geschafft. Die Nebenniere brauchte zwei Wochen, um sich davon zu erholen. Adrenalin wird dann ausgeschüttet, wenn unser emotionales Gehirn Notsignale empfängt und sendet. In der Depression kann das schon durch eine ganz geringe Überanstrengung geschehen.

      Verführerisch ist, dass Adrenalin kurzfristig das Stimmungsbarometer ansteigen lässt. Für einen Gesunden hat das durchaus positive Konsequenzen. In der Depression aber verstärkt sich durch die Überanstrengung und den Stress das Neurotransmitter-Defizit nur noch mehr. Das Gehirn braucht lange, bis es sich davon erholt hat. Viele Hilfesuchende haben erst nach dieser Erklärung verstanden, warum es ihnen nach solch einem positiven Erlebnis schlechter geht als vorher. Vermeiden Sie also jede Übertreibung und gehen Sie im Zweifelsfall eher zwei Schritte zurück. Vor allem zu Beginn der Erkrankung, wenn das Hormonsystem instabil ist, gilt es, ein „Polster an Energie“ anzulegen, etwa im Sinne von: Eigentlich könnte ich noch mehr. Aber erst mal lieber nicht … Das gilt insbesondere für Sport, dem ich in diesem Buch ein eigenes Kapitel widme, aber auch für alle anderen Tätigkeiten. Egal, ob es sich um Gartenarbeit oder um das Erledigen von beruflichen und privaten Pflichten handelt – gewöhnen Sie sich an, nach einer oder zwei Stunden zu überprüfen: Was tue ich da gerade? Wie geht es mir dabei? Wechseln Sie die Tätigkeit und wechseln Sie vor allem zwischen Aktivität und Ruhe.

      Es versteht sich von selbst, dass es auch wenig sinnvoll ist, stundenlang apathisch im Bett zu liegen, es sei denn, Sie gönnen sich bewusst mal einen Tag im Bett, weil Ihr Körper und Ihre Seele diese Fürsorge jetzt brauchen und sie genießen können.

      Übertreibungen erkennt man daran, dass man sich damit letztlich nicht richtig wohlfühlt. Es fühlt sich entweder so an, wie außer sich zu sein, oder so, wie dumpf und leer zu sein. Viel gesünder ist jetzt ein Pendeln um die Mitte. Deshalb ist ein harmonischer Tagesrhythmus so wichtig, in dem der Körperpflege, dem Essen und Trinken, den kleinen Belastungen und Pflichten des Alltags, aber auch musischen Beschäftigungen bestimmte Zeiten gewidmet sind, die mit Bewegung und Ruhe abwechseln. Berufstätige sollten auf einen guten Tagesbeginn, auf bewusste Körperwahrnehmung und schrittweise erfolgendes, ruhiges Arbeiten mit vielen kleinen Pausen achten, indem Sie ständig positive Selbstgespräche führen im Sinne von: „Schau mal, das haben wir jetzt schon gut geschafft! Den Rest kriegen wir auch noch hin.“

      Wenn die Krankheit einen Sinn hat, dann den, dass Sie sich selbst besser kennenlernen und herausbekommen, was Ihnen guttut. Die meisten Menschen haben erst durch die Erkrankung die Balance der eigenen Kräfte entdeckt.

      Sie können Ihren Zustand in etwa vergleichen mit der Phase eines Säuglings kurz nach der Geburt, in der die Seele äußerst empfindlich ist. Da müssen Temperatur und Lichtverhältnisse stimmen. Anregung und Ruhe müssen sich die Balance halten. Der Säugling möchte mal allein sein, mal braucht er ganz viel Zuwendung und Pflege. Ähnlich wie bei einem Säugling geht es nicht um Standardmaßnahmen, sondern um Dinge, die ganz individuell richtig sind.

      Finden Sie für sich selbst heraus: Wie viel Rückzug in mein Schneckenhaus ist gut und wie viel Kontakt brauche ich? Auch hier kommt es auf die Qualität an. Rückzug in die Atmosphäre des eigenen Zuhauses ist dann sinnvoll, wenn Sie sich dort geborgen fühlen. Kontakt ist dann wichtig, wenn Sie sich zu viel um die eigene Achse drehen und sich selbst verlieren.

      Nehmen Sie sich täglich eine kleine Unternehmung vor, um mit Menschen in Kontakt zu sein: Einkaufen, eine physiotherapeutische Anwendung, Kontakt mit dem behandelnden Arzt oder Therapeuten, Besuch einer wohltuenden Veranstaltung oder eine Tätigkeit, die angenehme Empfindungen auslöst. Achten Sie darauf, dass Sie zwischen Aktivität und Ruhe abwechseln. Kommen Sie sich auf die Schliche, wenn Sie drauf und dran sind, wieder in Extreme zu verfallen. Sie wissen ja jetzt, warum.

      Meine Empfehlung:

      Verschaffen Sie sich in jeder Phase Ihres Tages Klarheit darüber, ob die Tätigkeit oder das Untätigsein gerade guttun und wie lange Sie darin verweilen wollen. Sie könnten sich fragen:

      •Habe ich einen guten Tagesrhythmus?

      •Habe ich Bewegung und Ruhe im Blick?

      •War ich heute schon an der frischen Luft?

      •Habe ich genug gegessen und getrunken?

      •Habe ich heute schon einen menschlichen Kontakt gehabt?

      •Habe ich heute etwas Schönes erlebt (Musik, Tiere, Garten, eine Kerze, ein Lächeln)?

      •Brauche ich meinen Notfallkoffer?

      •Habe ich heute schon etwas Aufbauendes gelesen (einen Spruch, ein Gebet, ein paar wohltuende Worte oder Zeilen)?

      •Habe ich heute schon dokumentiert, was ich gemacht habe und was gut war?

      Sie werden sehen, wie nützlich das „Übungsfeld Depression“ für Sie ist, wenn Sie wieder aktiver am Leben teilnehmen. Leiden ist nicht angenehm, aber es zwingt zu wichtigen Erkenntnissen und macht kreativ.

      Zum Abschluss dieses Kapitels ein Sinnspruch aus dem Sanskrit:

      Achte gut auf diesen Tag,

      denn er ist das Leben – das Leben allen Lebens.

       In seinem kurzen Ablauf

      liegt alle Wirklichkeit und Wahrheit des Daseins,

      die Wonne des Wachsens, die Größe der Tat,

      die Herrlichkeit der Kraft.

       Denn das Gestern ist nichts als ein Traum

      und das Morgen nur eine Vision.

       Das Heute jedoch – recht gelebt –

      

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