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Irrealität, Wirklichkeit und Traum, Luzidität und Delirium etc. waren für sie keine voneinander getrennten Sphären, sondern standen im Austausch miteinander. Die Surrealisten waren tief in der Wirklichkeit verwurzelt, knüpften aber neue Beziehungen zu ihr. Das „merveilleux“, das in den surrealistischen Theaterstücken in Form von überraschenden, ungewöhnlichen, wunderbaren Momenten stark präsent ist, war ihre Richtschnur. Es entstand aus einer Umwertung der Beziehung zur Realität und war für jeden zugänglich.

      Die Surrealisten wollten binäre Kategorien zum Einsturz bringen, so auch die Dichotomie Traum-Wachzustand. Diese Bereiche standen sich nicht gegenüber, sondern kommunizierten miteinander. Zu einem besseren Verständnis des Menschen musste der Traum weiter erforscht werden, der, wie auch der Wachbereich, einer Ordnung gehorchte. Die Surrealisten nutzten Techniken, wie z.B. das Schreiben im Halbschlaf, Traumprotokolle und Trancephasen, um der Logik des Traums auf den Grund zu kommen. Der Traum spielt auch in den surrealistischen Theaterstücken eine große Rolle, wo er zur Pforte in die verborgenen Bereiche der menschlichen Existenz wird und den Figuren alternative Lebensentwürfe aufzeigt. Außerdem findet sich der Traum als Konstruktionsprinzip in manchen Stücken wieder.

      Die Surrealisten wollten neue Mythen erschaffen. Mythen bieten einen alternativen Zugang zur Realität, da sie sich den wichtigen Fragen des Lebens nicht auf wissenschaftlicher, sondern auf affektiver Ebene nähern. Paris war das Zentrum dieser modernen Mythologie, die eng mit der Suche nach dem Wunderbaren verknüpft war. Die französische Hauptstadt mit ihren Reklamen, Luxusgegenständen und Flaneuren wird in den surrealistischen Theaterstücken zur Protagonistin.

      Die Collage, also die Übernahme von kunstfremdem Material in die Kunst auf solche Weise, dass sein Verwendungszweck und sein Wesensunterschied zu dem vom Künstler selbst angefertigten Material erkennbar bleiben, war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Reaktion auf eine nicht mehr zu bewältigende Wirklichkeit. Die moderne Welt war zu komplex geworden, sie konnte nicht mehr als Ganzes erfasst werden, und das, was bisher als selbstverständlich gegolten hatte, wurde nun in Frage gestellt: Realität und Identität lösten sich langsam auf. Dasselbe geschieht in der Collage, wo traditionelle Dichotomien aufweichen. Das collagierte Material wird zu Kunst aufgewertet, die Kunst wird zu Nicht-Kunst abgewertet. Der Künstler ist nicht mehr das inspirierte Genie, sondern Organisator von Material, genau wie der Theaterregisseur. Die Grenze zwischen Kunst und Leben verwischt in der Collage, wo das Alltägliche in die Kunst einbricht. Die Collage entspricht der surrealistischen Bildtheorie, nach der das Aufeinandertreffen zwei disparater Realitäten zu neuen, überraschenden Bildern führt, die eine transformative Kraft auf den Betrachter ausüben. Demnach geht es in der surrealistischen Poetik weniger um die Erfindung etwas gänzlich Neuen, sondern um die freie Kombinatorik bereits bestehender Elemente. Collage und Theater sind sich hier sehr ähnlich, denn hier wie dort geht es darum, Fragmente aus unterschiedlichen Bereichen der Realität auf einer geistigen oder konkreten Bühne zusammenzuführen. In den surrealistischen Theaterstücken wurde die Collage als Konstruktionsprinzip angewendet, und Elemente aus Kino, Zeitung und Literatur wurden in den Theatertext hineincollagiert.

      Die Beziehung der Surrealisten zu ihrem Publikum war vor allem von Antagonismus geprägt. Es ging den meisten von ihnen nicht darum, ihr Publikum auf Augenhöhe zu treffen. Die Surrealisten wollten ihr Publikum vielmehr aus seiner Passivität aufrütteln, es schockieren und zur Reaktion zwingen. Einzig surrealistische Dramatiker wie Artaud wollten das Publikum zu einem gleichberechtigten Partner machen. Bei ihm sollte die Theatervorstellung für den Zuschauer zur Operation werden, aus der er nicht mehr intakt entlassen wurde. Theater sollte zu einem lebensbedrohlichen und -verändernden Ereignis werden.

      Das surrealistische Theater war gescheitert, weil die Literaten unter den Surrealisten ihrer hauptsächlich verbalen Poesie nicht die nötige Schwere verleihen konnten, die sie am Theater benötigte. Außerdem hatten die Surrealisten, die in der Mehrzahl kein theaterspezifisches Interesse hegten, das Theater nach einigen Versuchen bald aufgegeben, weil sich gerade hier, in der Konfrontation von Bühne und Zuschauerraum, die Überführung von Kunst in Lebenspraxis nicht verwirklichen ließ. Die surrealistischen Dramatiker Artaud und Vitrac waren die einzigen, die in ihrer Bühnenpoesie auch die theaterspezifischen Umstände berücksichtigten, doch Artauds bahnbrechende Überlegungen zu einer neuen Theatersprache wurden bekanntlich zu seiner Zeit nicht realisiert. Es sind die Theaterpoeten, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Fäden der surrealistischen Theatermacher wieder aufgreifen.

      4 Das poetische Theater

      4.1 Einleitung

      Der Begriff des poetischen Theaters mag auf den ersten Blick problematisch erscheinen, denn ist nicht letztlich der britischen Theaterkritikerin Lyn Gardner vom Guardian zuzustimmen, wenn sie sagt, dass „all theatre is, in one sense at least, poetry performed“1? Für André Rousseaux war das Theater schon immer das Sprachrohr der Poesie: „Le théâtre est, depuis toujours, la porte triomphale par où la poésie se présente à nous face à face.“2 Und in einem Artikel, in dem er Schehadé verteidigte, schrieb Dumur: „Il n’y a de théâtre que poétique. Tout le reste est mensonge.“3

      In der vorliegenden Arbeit wird unter der Bezeichnung des poetischen Theaters, die sich mittlerweile in der Forschung – auch in Abgrenzung zum absurden Theater – etabliert hat, ein historisch klar umrissenes Theater verstanden. Der Begriff bezeichnet eine lose Gruppe französischsprachiger Dramatiker der unmittelbaren Nachkriegszeit, welche ihre Schriftstellerkarriere als Dichter begonnen hatten. Zeitlich anzusiedeln ist das poetische Theater in der Zeit zwischen den späten 1940er und den 1960er Jahren, zu ihm zählen Dramatiker wie Audiberti, Dubillard, Obaldia, Pichette, Schehadé, Tardieu, Vauthier und Weingarten.

      Wie das absurde Theater ist das poetische Theater im Kontext der Nachwehen des Zweiten Weltkriegs und der Popularisierung der französischen Existenzphilosophie Sartres und Camus‘ zu begreifen: Absurdität der menschlichen Existenz, Sinnlosigkeit und Hostilität des Universums, Entfremdung des Einzelnen von sich selbst und seinen Mitmenschen. Doch die Konsequenzen, die beide aus dieser condition humaine ziehen, sind grundverschieden. Bei den absurden Dramatikern herrscht eine nihilistisch-destruktive Weltanschauung, die sich vor allem in der Erosion der Sprache ausdrückt, welche nicht mehr in der Lage ist, ihre grundlegenden Funktionen (Darstellung der Wirklichkeit, Kommunikations- und Ausdrucksmittel, Vermittlung von Informationen etc.) wahrzunehmen. Im Gegensatz dazu stehen die Theaterpoeten, die an eine surrealistische Tradition anknüpfen: sie sind mit dem Bereich des Wunderbaren und Traumhaften in Kontakt und rücken die Sprache in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Anstatt die Sprache zu zerstören, haben die Theaterpoeten Vertrauen in das Wort und seine schöpferisch-performative Kraft und zeigen darüber eine alternative Realität auf, die bei den absurden Dramatikern nicht mehr möglich scheint. Man kann also mit Tonnet-Lacroix4 von einem surrealistischen Theater nach 1945 sprechen.

      Die Theaterpoeten führten die surrealistischen Theaterversuche jedoch nicht einfach fort. Die Surrealisten, das wurde im dritten Kapitel gezeigt, waren hauptsächlich Literaten und ignorierten die Unterschiede zwischen Poesie und Bühne. Sie hegten – bis auf einige Ausnahmen – kein ernsthaftes Interesse für die Bühne. Die Kunst war für sie ein Mittel zum Zweck, womit eine Gattungstrennung, die unterschiedlichen Genres unterschiedliche Regeln auferlegt, obsolet geworden war. Die Surrealisten hatten verkannt, dass Poesie auf der Bühne die Regeln des Theaters respektieren muss. Ionesco hat den literarischen Charakter des surrealistischen Theaters zu Recht kritisiert:

      J’avais connu, bien sûr, plus ou moins, quelques tentatives Dadaïstes ou Surréalistes de théâtre, et Roussel et Vitrac. Cependant, à part Vitrac, aucune de ces tentatives antérieures n’avait le dynamisme, le mouvement, les ruptures, la vie, le côté 'événements surprenants' qui font qu’une œuvre soit dramatique, car les pièces Surreálistes n’étaient que de la littérature, mais pas du théâtre. […] Le théâtre n’est pas le dialogue, le théâtre ne fait qu’utiliser le dialogue. Combien d’auteurs n’ont pas compris cette vérité théâtrale fondamentale: le théâtre n’est pas dialogue, si subtil celui-ci puisse être.5

      Im Gegensatz dazu waren die Theaterpoeten ernsthaft am Theater und an den bühnenspezifischen Mitteln interessiert. Sie haben erkannt, dass Poesie nicht direkt auf die Bühne übertragen werden konnte und strebten – intuitiv

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