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Mehrsprachigkeit ist dringend zu systematisieren (s. hierzu auch Ahrenholz/Maak 2013), um Ergebnisse vergleichen zu können und der tatsächlichen Mehrsprachigkeit der Familien gerecht zu werden.

      1.3 Zweitspracherwerb

      SuS mit DaZ erwerben das Deutsche sukzessive, d.h. zeitlich versetzt zu ihrer L1 bzw. ihren Erstsprachen (Rothweiler 2007: 106). Der intensive und kontinuierliche Kontakt zur L2 beginnt für diese Kinder häufig mit dem Eintritt in eine Bildungsinstitution. Abhängig vom Zeitpunkt des Erstkontakts zur L2 spricht man von einem frühen L2-Erwerb (Erwerbsbeginn zwischen zwei/drei und vier/sechs Jahren) und grenzt ihn vom L2-Erwerb von Kindern mit einem Erwerbsbeginn zwischen sechs und zwölf Jahren und dem Zweitspracherwerb von Jugendlichen und Erwachsenen mit dem Erwerbsbeginn nach der Pubertät ab (Rösch 2011: 11, Schulz/Grimm 2012: 164) (s. Abb. 1).

      Neben dem sukzessiven Erwerb besteht die Möglichkeit, zwei oder mehr Sprachen parallel zu erwerben. Innerhalb des L1-Erwerbs differenziert man zwischen dem monolingualen und dem bilingualen Erwerb (Rothweiler 2007), bei dem das Kind zwei Sprachen von Geburt an bzw. vor dem zweiten Geburtstag erwirbt. Der simultane Erwerb muss jedoch nicht auf zwei Sprachen begrenzt sein, z.B. kann die Mutter Rumänisch, der Vater Französisch mit dem Kind sprechen, die Umgebungssprache der Familie ist jedoch Deutsch und wird z.B. in Krabbelgruppen und auf dem Spielplatz gesprochen (trilingualer Erwerb) (Montanari 2014 für einen Einblick in verschiedene Modelle mehrsprachiger Familien).

      Abb. 1: Spracherwerbstypen in Anlehnung an Müller et al. 2007; Rothweiler 2007; Rösch 2011 (in Geist 2013: 10)

      Abzugrenzen ist der L2-Erwerb andererseits vom gesteuerten Fremdspracherwerb (s. Abb. 1): Kinder mit DaE und DaZ erwerben das Deutsche weitgehend ohne direkte Steuerung. Auch wenn sie beispielsweise für einige Stunden pro Woche an einer Sprachförderung teilnehmen oder in den ersten Monaten in einer gesonderten DaZ- oder Vorbereitungsklasse beschult werden, ist dieser Unterricht bzw. diese Förderung hinsichtlich ihres Anteils am gesamten Input und ihrer Strukturiertheit nicht vergleichbar mit dem Fremdsprachenunterricht. Da aber die Entwicklung einer eigenständigen DaZ-Didaktik für Seiteneinsteiger noch in den Kinderschuhen steckt (jedoch u.a. Feldmeier 2015, Khakpour/Schramm 2016, zu Seiteneinsteigern u.a. Mavruk/Wiethoff 2015, Maak 2014), wird in DaZ-Klassen derzeit häufig auf fremdsprachendidaktische Elemente zurückgegriffen.

      Studien zum Spracherwerb stützen die Unterscheidung zwischen dem frühen und späten Zweitspracherwerb:

      Viele Kinder, die bis zum Alter von vier oder fünf Jahren mit dem Erwerb einer zweiten Sprache beginnen, scheinen den Spracherwerb problemlos zu vollziehen, während ältere Kinder und Jugendliche länger brauchen. Je später der Erwerbsbeginn liegt, umso mehr gleicht der Zweitspracherwerb dem Zweitspracherwerb Erwachsener. (Rothweiler 2007: 122)

      Gründe für den offenbar problemlosen frühen Erwerb von Phonologie, Syntax und Verbmorphologie in der L2 werden darin gesehen, dass den Kindern mit Erwerbsbeginn vor dem fünften Lebensjahr Spracherwerbsmechanismen noch zur Verfügung stehen (Meisel 2009). Teils läuft der Erwerb damit sogar schneller ab als der Erstspracherwerb, weil sie auf bereits entwickelte kognitive Fähigkeiten und Weltwissen sowie Kenntnisse in der L1 zurückgreifen können (Rothweiler 2007: 122). Jedoch sind abhängig vom Erwerbsbeginn auch qualitative Abweichungen und Einflüsse der Erstsprachen, die sich beispielsweise in einer Auslassung von Artikeln in der Nominalphrase zeigen können, erwartbar (z.B. Rothweiler 2016).

      Neben dem Alter bei Erwerbsbeginn stellt die Kontaktdauer, die angibt, wie lange ein Lerner bereits Zugang zur L2 hatte, ein wichtiges Charakteristikum dar. Gleichaltrige Kinder verfügen abhängig von der Kontaktdauer über unterschiedlich weit entwickelte sprachliche Fähigkeiten (z.B. Grimm/Schulz 2012, Geist 2017). Faktoren, die sich auf den scheinbar ‚problemlosen‘ Vollzug des frühen Zweitspracherwerbs negativ auswirken können, sind neben dem Zeitpunkt des Erwerbsbeginns und der Kontaktdauer auch die Qualität des Inputs (Rothweiler 2007), die bislang selten Forschungsgegenstand war (zur Sprache pädagogischer Fachkräfte u.a. Müller et al. 2016).

      Die Vielfalt der Sprachbiographien von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen lässt sich mit der obigen Grafik (Abb. 1) natürlich nicht abbilden. Diese Vielfalt ist möglicherweise auch ein Grund dafür, dass es der Deutschdidaktik nur sehr schleppend gelingt, sich auf die Bedürfnisse mehrsprachiger SuS einzustellen: Während der L1-Erwerb z.B. mit Blick auf die Grammatik aufgrund der erwähnten Spracherwerbsmechanismen qualitativ sehr ähnlich verläuft, wirken sich im L2-Erwerb weitere Faktoren aus, deren Zusammenspiel zu verschiedenen Erwerbsverläufen führt. Wir wollen, um die Bandbreite zumindest anzudeuten, hier drei Fallbeispiele mit ihren Ausgangsbedingungen vorstellen, auf deren besondere Kompetenzen und Bedürfnisse wir im Lauf der folgenden Kapitel immer wieder zurückkommen werden.

      EBRU1 ist ein zehnjähriges Mädchen, das in Deutschland geboren wurde und momentan die 4. Klasse einer Regelschule besucht. Ihre Erst- und Familiensprache ist Türkisch, Deutsch lernt sie als frühe L2 seit dem Eintritt in den Kindergarten im Alter von 3;6 (Jahre; Monate). Seit dem ersten Schuljahr besucht sie auch den muttersprachlichen Türkischunterricht – somit kann sie nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich in zwei Sprachen kommunizieren. In ihren mündlichen Fähigkeiten im Deutschen unterscheidet sich EBRU auf den ersten Blick kaum von gleichaltrigen einsprachigen Kindern, was beeindruckend ist, wenn man ihre um dreieinhalb Jahre kürzere Kontaktdauer zum Deutschen bedenkt. Bei einem Blick auf schriftliche Produkte fallen jedoch hin und wieder Schwierigkeiten (z.B. bei der Markierung von Akkusativ und Dativ in der Nominalgruppe) auf. Ihr großes mehrsprachiges Potential kommt im Regelunterricht ebenso wie im Türkischunterricht nicht zur Geltung, da beide Unterrichtsformen zwar in einer Schule angeboten werden, jedoch nicht zu gemeinsamen Lernerlebnissen führen.

      CLAUDIU (7;8) stammt aus Rumänien und ist durch die Arbeitsmigration seiner Eltern im Alter von 6 Jahren nach Deutschland gekommen. Er wurde zunächst für ein Jahr in eine Vorbereitungsklasse aufgenommen und besucht nun seit einigen Monaten den Regelunterricht einer 2. Klasse. In seinem ersten Jahr in Deutschland hat CLAUDIU mit ‚Siebenmeilenstiefeln‘ die deutsche Sprache erworben. Er kann sich umgangssprachlich verständigen und hat gleichzeitig mit dem Lese- und Schreiberwerb begonnen. Nach wie vor hat er sprachliche Schwierigkeiten, die ihn teilweise daran hindern, dem Unterricht zu folgen; Kapazitäten für einen weiteren Förderunterricht stehen an der Schule allerdings nicht zur Verfügung. Weil kein muttersprachlicher Unterricht angeboten wird, lernt CLAUDIU das Lesen und Schreiben ausschließlich in seiner L2.

      KARIM ist 17 Jahre alt, er kam als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling vor einem Jahr nach Deutschland. In seinem Herkunftsland Afghanistan hat er die neunjährige allgemeinbildende Schule besucht; dabei hat er sprachliche Kompetenzen in mündlicher und schriftlicher Form nicht nur in seiner L1 Dari, sondern auch in der Fremdsprache Englisch erworben. Momentan besucht er die 9. Klasse einer Werkrealschule. KARIM hat in den vergangenen 12 Monaten bereits einige Spezifika der deutschen Sprache erworben, allerdings qualitativ in einem anderen Verlauf als CLAUDIU. Er hat ebenfalls teilweise noch Schwierigkeiten, dem Unterricht in sprachlicher Hinsicht zu folgen. Andererseits ist er in einigen Bereichen (vor allem im Englischen, aber auch in den naturwissenschaftlichen Fächern) seinen Klassenkameraden weit voraus.

      1.4 Gemeinsamer Unterricht

      Die Sprachdidaktik untersucht, welche Lerngegenstände im Deutschunterricht mit welchen Zielsetzungen und auf welche Weise mit den SuS bearbeitet werden können. Außerdem entwickelt und erprobt sie dafür geeignete Konzeptionen und Methoden. Ihr ist die sprachliche Heterogenität der Schülerschaft nicht fremd, beschäftigt sie sich doch zunehmend mit dem Anspruch eines gemeinsamen Unterrichts, der den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen Rechnung trägt. Dennoch ist die Sprachdidaktik noch weit davon entfernt, die Anwesenheit ein- und mehrsprachiger SuS immer mitzudenken – sie mithin als den Normalfall (s. 1.2) anzusehen.

      In Einführungen in die Sprachdidaktik ist inzwischen (beinahe) immer ein Kapitel zu DaZ-Didaktik und/oder Mehrsprachigkeit enthalten, und das ist erfreulich. Allerdings handelt es sich eben meist um ein additives Thema. Einführungen in die DaZ-Didaktik untermauern das Nebeneinander von Erst- und Zweitsprachdidaktik, und auch

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