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sedimentierten Strukturen nicht nur oberflächlich zu deuten, sondern wirklich zu verstehen, bedarf es der interdisziplinären Kooperation von Sprach-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften.

      4.3.3 Das Genus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-Prinzip bei personifizierten TierenTiere, Objekten und Abstrakta

      In fiktionaler Literatur oder bebilderten KinderbüchernKinderbücher kommt es häufig vor, dass Tiere personifiziert und damit individualisiert werden, d.h. Namen bekommen, bestimmte Kleider tragen, sprechen und miteinander interagieren. Dabei wird ihnen fast ausnahmslos ein Geschlecht zugewiesen. Besonders interessant sind weniger belebte TiereTiere wie Vögel, Reptilien, Amphibien oder Insekten, deren Geschlecht nicht sichtbar und normalerweise auch irrelevant ist.

      

Man muss sich gar nicht in die fiktionale Welt begeben, denn häufig lässt sich beobachten, dass Wildtiere (vom Wels über die Schnappschildkröte bis hin zu Wolf und Bär) dann, wenn sie allzu dicht mit dem Menschen in Kontakt treten, in den Medien mit einem Eigennamen nicht nur benannt, sondern vermutlich gebannt (kontrolliert) werden. Auch dabei fällt auf, dass das Substantivgenus das im Namen realisierte Individualgeschlecht zu bestimmen scheint. Durch häufige Apposition stehen Appellativ und Name sogar in direkter Kontaktstellung: Problembär Bruno, Kaiman Sammy, Killerwels Kuno, Kranich Heintje, Schildkröte Lotti. Trauerschwänin Petra hieß anfänglich Peter und war damit am Genus von Schwan ausgerichtet. Die Entdeckung ihres wirklichen Geschlechts hat neben dem Geschlechtswechsel des Namens auch den Genuswechsel des Appellativs (Movierung) bewirkt. Auch dieser Komplex harrt noch seiner umfassenden Erschließung.

      Am eindeutigsten erweist sich das ihnen zugewiesene Geschlecht am Namen. Ad hoc drängen sich Figuren auf wie die Biene Maja, Maikäfer Sumsemann, Karl der Käfer und der Maulwurf Grabowski.

      Nicht selten werden auch Anredenomen verwendet wie Frau (Spinne) oder HerrHerrHerr (Specht). Spielt bei diesen Geschlechtszuweisungen das Genus ihres Appellativs eine Rolle? Fördert ein Femininum eine Verweiblichung, ein Maskulinum eine Vermännlichung? Liegt hier eine Genus-zu-Sexus-Steuerung vor? Dies spräche für einen massiven Einfluss des grammatischen auf das außersprachliche Geschlecht – und genau dieser Einfluss ist in der Genderlinguistik umstritten (Kap. 5 zum sog. generischen Maskulinum). Außerdem stellt sich die Frage, was mit Neutra passiert wie Schwein, Pferd, Rotkehlchen: Wirken hier eher Genderstereotypen?

      Diesen Fragen sind Bickes/Mohr (2010) nachgegangen: In „HerrHerr Fuchs und Frau Elster – Zum Verhältnis von Genus und Sexus am Beispiel von Tierbezeichnungen“ wurden 187 TiereTiere (116 Maskulina, 50 Feminina, 21 Neutra) aus 74 originär deutschsprachigen KinderbüchernKinderbücher untersucht (Übersetzungen wurden ausgeschlossen, da es sonst zum Einfluss von Genussystemen anderer Sprachen oder genusloser Sprachen wie Englisch käme).1 Das Ergebnis spricht eine deutliche Sprache: Bei den maskulinen Tierbezeichnungen (Hund, Hase) erfolgt zu 93 % eine damit korrelierende Sexuszuweisung, bei den femininen (Eule, Raupe) zu 82 %, d.h. insgesamt kommt es zu einer ca. 90 %-igen Übereinstimmung zwischen Genus und zugewiesenem Geschlecht. Dies bestätigt die Existenz eines Genus-Sexus-NexusGenus-Sexus-Nexus. Neutrale TiereTiere (Eichhörnchen, Schwein) werden zu zwei Dritteln männlich und einem Drittel weiblich sexuiert. Bickes/Mohr (2010) geben allerdings mit Verweis auf Köpcke/Zubin (1996) zu bedenken, dass menschenähnliche Tiere per se vorrangig maskuline Bezeichnungen tragen:

      Dass das maskuline Genus unter Tierbezeichnungen in Tiergeschichten stärker vertreten ist, lässt sich möglicherweise mit der von Köpcke/Zubin (1996) vertretenen These zum enthno-zoologischen Kontinuum in Verbindung bringen: Als Protagonisten treten menschenähnliche Tiere weitaus häufiger auf als Echsen oder Asseln. (Bickes/Mohr 2010, 265)

      Prinzipiell hat sich dies – mit fast gleichen Prozentwerten – auch bei Lückentextaufgaben mit 15 Tierbezeichnungen und 1.807 Nennungen sexusdefiniter Vornamen bestätigt. Hier wurden auch Maskulina mit menschenunähnlicheren TierenTiere wie Käfer, Maulwurf, Spatz sowie Feminina mit menschenähnlicheren Tieren wie Giraffe, Katze eingestreut. Der Abstand zum menschlichen Prototyp spielte bei der namentlichen Geschlechtszuweisung jedoch keine Rolle: Es ist primär das Genus, das über Sexus entscheidet. Ähnlich weisen Lötscher (1993) und Christen (2013) bei schweizerdeutschen Metaphern zur Negativbezeichnung von Menschen hin, dass feminine Metaphern sich eher für Frauen und maskuline für Männer eignen. Nur bei den Neutra scheint sich ein stereotypenbedingter Effekt abzuzeichnen, wenngleich hier zu rund 70 % männliche und 30 % weibliche Namen vergeben wurden. Das große, massige Nilpferd wurde zu 85 % männlich und 15 % weiblich konzipiert, das Schwein nur zu 55 % bzw. 45 %. Weitere neutrale Tierbezeichnungen waren jedoch nicht vertreten (was zeigt, dass hier noch viel Forschungsbedarf besteht).

      Die Autorinnen deuten diese Befunde als Evidenz gegen die Existenz eines sog. generischen Maskulinums:

      Wenn der Zusammenhang zwischen Genus und Sexus im Bewusstsein heutiger SprecherInnen augenscheinlich dahingehend wirksam ist, dass sogar TierenTiere und Gegenständen aufgrund des grammatischen Geschlechts latent ein biologisches Geschlecht zugewiesen wird – wie sollte dann ausgerechnet in Bezug auf Personenbezeichnungen, dem einzigen Feld, wo tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Genus und Sexus existiert, dieser Mechanismus ausgeschaltet sein? Die These, das angeblich generische Maskulinum der Arzt in dem Satz Ich muss unbedingt zum Arzt würde geschlechtsneutral interpretiert werden, erscheint vor diesem Hintergrund schlicht abwegig. (271f.)

      Wie die Autorinnen andeuten, werden sogar unbelebte Objekte sexuiert, wenn sie personifiziert werden (s. hierzu eingehend Köpcke/Zubin 2012, die von „Genus-Sexus-Konsonanz“ sprechen). So verfasste Christian Morgenstern das Gedicht „Frau Gabel und Herr Löffel“. Heinrich Heine schrieb über die stereotyp-genderisierte Liebesbeziehung zwischen einer weiblichen Palme und einem männlichen Fichtenbaum. Frau Welt, VaterVater Rhein und Gevatter Tod bestätigen ihrerseits die Macht des Genus. Auch Sonne (f.) und Mond (m.) werden im Deutschen genuskonform sexuiert – ebenso in den romanischen Sprachen, aber spiegelbildlich, da dort eine umgekehrte Genusverteilung vorliegt (la luna [f.] – el sol [m.]) (Köpcke/Zubin 2012, 390; auch Bußmann 1995, 115ff.; Kalverkämper 1979, 61). Selbst Pfirsich und Erdbeere, Joghurt und Buttermilch, Schokoriegel und Milch, Tee und Zitrone, Wagen und Zapfsäule gehen in der Werbung geschlechterdifferente Beziehungen ein. Köpcke/Zubin (2012) beschreiben auch Fälle umgekehrter Kausalrichtung, wo für genderisierte Kaufobjekte unter mehreren lexikalischen Alternativen dasjenige Lexem gewählt wird, das das zum gewünschten Objektgeschlecht passende Genus enthält, etwa die Verbindung (dargestellt von einer Frau) statt der Anschluss; die Zapfsäule (dargestellt von einer Frau) statt das Benzin.

      4.3.4 Evoziert das Genus von Objektbezeichnungen Geschlechterstereotype?

      Zu einigem Aufsehen hat ein Beitrag von Boroditsky et al. (2003) geführt. Hier wird ein Experiment beschrieben, dessen Befunde Evidenz dafür zu liefern scheinen, dass feminine Objektbezeichnungen (z.B. die Brücke) zu weiblichen Genderisierungen des Objekts selbst führen, entsprechend auch bei Maskulina (z.B. der Schlüssel). Wir fassen es ganz knapp zusammen (s. auch Köpcke/Zubin 2012, 385ff.): Bei Deutsch- bzw. Spanisch-SprecherInnen wurde anhand von 12 interlingualen Lexempaaren mit gleicher Bedeutung, aber unterschiedlichem Genus festgestellt, dass den benannten unbelebten Objekten genuskonform genderstereotype Adjektive zugewiesen wurden. Unabhängig davon waren diese Adjektive vorab durch eine andere Gruppe auf ihre Geschlechtsstereotypie und deren Ausprägungsgrad bewertet und eingestuft worden. Dies sei anhand eines Lexempaars illustriert: Nhd. Schlüssel ist maskulin, span. llave feminin. Während die Deutschen dem Schlüssel eher männlich genderisierte Eigenschaften zuwiesen wie hart, schwer, schroff, zackig, metallisch, beschrieb die spanische Gruppe ihren femininen ‚Schlüssel‘ als hübsch,

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