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Pionier und Gentleman der Alpen. Natascha Knecht
Читать онлайн.Название Pionier und Gentleman der Alpen
Год выпуска 0
isbn 9783038550044
Автор произведения Natascha Knecht
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Ganz falsch liegt Melchior mit seiner zeitlichen Einschätzung nicht: Ein gewaltiger Eisabbruch ging dort am 18. August 1782 nieder, dabei starben auf der Alp unterhalb zwei Kinder, zwei Erwachsene und gegen hundertvierzig Tiere wurden «jämmerlich erschlagen und zerschmettert», wie Urkunden von Leukerbad und Kandersteg zu entnehmen ist. Der nächste, noch verheerendere Absturz folgte dann am 11. September 1895 um 5.10 Uhr. Im «Schwarenbach» nahm man ein anhaltendes, donnerähnliches Getöse wahr und sah eine weissliche, wolkenähnliche Lawine. Das Getöse und Erzittern ging bis Kandersteg. Etwas später fiel für kurze Zeit ein kalter Regen aus heiterem Himmel herab, «entstanden durch Schmelzung des Eisstaubes». Um 9.30 Uhr kam der Knecht vom «Schwarenbach» nach Kandersteg gerannt, «schweisstriefend und fürchterlich erregt». Er verkündete: «Der Altels ist herunter fallen, alles ist tot – Menschen und Vieh – alles!» Später wurde festgestellt, dass 4,5 Millionen Kubikmeter Eis abgestürzt waren. Vier Männer kamen darin ums Leben, darunter Kanderstegs Vize-Gemeindepräsident, welcher wie immer zwei bis drei Tage vor der Alpabfahrt zur Teilung von Käse und Butter auf der Alp Spittelmatte weilte. Getötet wurden zudem 220 Tiere. Auch die Vernichtung des gesamten «Sommernutzens», des Vorrats für den Winter, war für viele Familien ein unermesslicher Verlust. Diese Tragödie ereignete sich 39 Jahre nach Andereggs und Hinchliffs Fahrt, heute ist der Gletscher stark zurückgeschmolzen.
HAND IN HAND ÜBER DIE STEILE FLANKE
Am steilen Gipfelkegel schlägt Melchior Stufen in das Eis. Hinchliff macht es sich zur Ehrensache, das Seil, mit dem sie verbunden sind, nie straff werden zu lassen. Melchior ist mit dem Marschtempo sehr zufrieden, was er durch wiederholtes «Gut, gut!» bezeugt. Als der Engländer die Frage aufwirft, was geschehen könnte, wenn einer auf diesem Eishang ausglitte, zeigt ihm Melchior, wie er im schlimmsten Falle seine Axt einhauen und sich daran halten würde. Trotz eintretenden Wetterumschlags steigen sie weiter und betreten bereits um 8.15 Uhr den Gipfel, der von einer zehn Fuss hohen Stange markiert wird.
Im Enthusiasmus klettert erst Melchior, dann Hinchliff an der Signalstange empor. Oben stösst Melchior den «Oberländer Kriegsruf aus, als ob ihn irgendjemand in der Runde hätte hören können». Hinchliff wird im Wind der Hut Richtung Gasterntal weggeweht, und der riskante Versuch Melchiors, diesen zu erhaschen, wird durch das Seil, das die beiden noch verbindet, rasch gehemmt. Melchior seilt seinen «Herrn» los, knüpft das Seilende und sich an den Signalpfahl und will sich auf die überhängende Wächte hinauswagen, um nach dem Hut zu spähen. Hinchliff schaudert es beim Zuschauen, er zieht ihn am Seil zurück, lehnt auch Melchiors Anerbieten ab, ihm seinen Hut zu leihen, und bedeckt das Haupt mit einem Taschentuch.
Um sich während des Mahls vor der Kälte zu schützen, graben sie die Beine bis zu den Knien in Schneehöhlen ein. Der «berühmte Gemsjäger» Melchior erzählt, dass er schon oft in selbstgegrabenen Schneehöhlen übernachtet und bis zum Morgen herrlich darin geschlafen habe. Beim Abstieg schreitet Melchior über das harte Eis voran, tritt in die im Aufstieg geschlagenen Stufen, Hinchliff dicht hinter ihm. Als der Schnee weicher wird, gehen sie Hand in Hand, die genagelten Absätze der Schuhe fest einstossend, wobei Melchior von Zeit zu Zeit sein «Gut, gut!» hören lässt. Es beginnt zu regnen, sie beeilen sich und gelangen um elf Uhr zum «Schwarenbach», wo man erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass sie lediglich sechseinhalb Stunden für die ganze Tour gebraucht haben, während man normalerweise nur für den Aufstieg deren sieben berechnet.
Sie trocknen ihre vom Niederschlag durchnässten Haare, geniessen eine Pfeife und einen Kaffee. Hinchliff will weiter nach Leukerbad, wo im Hotel des Alpes seine Reisebegleiter auf ihn warten. Bei diesem Wetter möchte Melchior seinen «Herrn» nicht alleine gehen lassen. Gutmütig gibt er vor, in Leukerbad «seinen Bruder» besuchen zu müssen. Arm in Arm, Hinchliff nun mit Melchiors Hut geschmückt, treten sie den Weg unter einem Regenschirm an. Hinchliff schreibt später: «Mit Bedauern schied ich von Melchior, indem ich ihn für einen ganz ausgezeichneten und zuverlässigen Gefährten halte, eines von jenen treuen und mannhaften Herzen, mit denen es immer ein Vergnügen ist, verbunden zu sein.» Sie nehmen sich zum Ziel, im nächsten Jahr gemeinsam den Wildstrubel zu besteigen – was sie 1858 zusammen mit Hinchliffs Freund Leslie Stephen machen werden.
DER STEINIGE WEG ZUM ALPINISMUS
DIE ENGLÄNDER KOMMEN — KRIEGSRHETORIK IN DEN BERGEN — RÜCKBLICK: DIE ALPEN SIND SCHRECKLICH, BERGBESTEIGUNGEN VERBOTEN UND «KEINESWEGS LUKRATIV» — MIT PANTOFFELN AUF DEN MONT BLANC — «WO IST JETZT DIE JUNGFRAU?»
Wäre Melchior Anderegg nicht von Thomas Hinchliff «entdeckt» worden, hätte ihn mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein anderer Engländer im Grimsel-Hospiz oder im «Schwarenbach» aufgespürt. Mit dem Aufkommen des touristischen Alpinismus tun sich zwar immer mehr Hochgebirgsführer hervor, aber nicht so viele, wie gefragt wären. Hinchliff publiziert 1857 sein Buch «Summer Months Among the Alps», ein Publikumserfolg. Es ist damals eine der ersten unterhaltsamen Lektüren über die Alpen ohne wissenschaftliche Abhandlung. Die Briten verschlingen Hinchliffs Reisen. Sie folgen ihm lesend auf die Alpengipfel, leiden mit ihm, wenn er sich etwa bei der Besteigung der Dufourspitze, mit 4634 Metern der höchste Gipfel auf Schweizer Boden, fast die Finger abfriert, weil ihm der Zermatter Führer nicht gesagt hat, er solle Handschuhe einpacken. Hinchliff beschreibt detailliert, was er gefühlt, gesehen und erlebt hat. Manche seiner Bergführer schienen ihm ängstlich und ungeübt, andere hat er als müde und weniger ausdauernd als er selber in Erinnerung. Jedenfalls erhält in «Summer Months Among the Alps» kein anderer so viel Lob wie Melchior Anderegg, den er seinen «good old friend» nennt. Dadurch wird der Haslitaler auf einen Schlag berühmt und begehrt. Also noch bevor seine grosse Zeit der Erstbesteigungen überhaupt angefangen hat.
Eintrag in Melchiors Führerbuch: 1959 sind Melchior Anderegg und sein «Entdecker» Thomas Hinchliff mehrere Wochen gemeinsam unterwegs und besteigen unter anderem das Finsteraarhorn.
In der Folge tauchen vermehrt Engländer auf der Grimsel und im «Schwarenbach» auf, um die grosse Blechflasche und Melchior zu finden. Sie reagieren enttäuscht, wenn sie nur erstere finden und zu hören bekommen: «Melchior ist weit weg über die Berge». Zu seinen Herrschaften zählt nun eine Reihe Bergsteiger, die ihm ehrgeizige Aufgaben stellen.
Die Anzahl der Touristen, die in die Hochalpen wollen, wächst ab den 1850er-Jahren rasant, die meisten bleiben Gelegenheitsbergsteiger und manche haben schon nach einem Gipfel oder einem vergletscherten Passübergang genug. Im Berner Oberland stellen Tschingel-, Strahlegg- und bei Zermatt der Théodule-Pass lange Jahre die grössten Ambitionen vieler dar.
Dagegen lassen sich die Namen jener, die sich um die Erstbesteigungen reissen und Saison für Saison von Gipfel zu Gipfel eilen, auf etwa drei, vier Dutzend beziffern. Allen voran sind es Briten. In ihrem kleinen Kreis verbrüdern sie sich zu einem Mikrokosmos von Alpinisten und gründen 1857 in London The Alpine Club, die erste Bergsteigervereinigung der Welt. An Meetings und in Jahrbüchern tauschen sie ihre Erfahrungen aus und diskutieren, wie sie ihr neu entdecktes Hobby weiterentwickeln können. Eine ähnliche Vereinigung konstituieren die Österreicher 1862.
In der Schweiz ruft 1863 eine Gruppe von Wissenschaftlern, Politikern und Mitgliedern des gebildeten Bürgertums mit dem Schweizer Alpen-Club (SAC) eine Gemeinschaft für «Hochgebirgsfreunde» ins Leben. Initiator ist Rudolf Theodor Simmler. Der Zürcher Chemie- und Geologieprofessor in Bern findet die Sachlage bemühend, ja sogar beschämend, «wenn das Publicum in der Schweiz über die Regionen des ewigen Schnee’s und Eises, über die Zugänglichkeit der Gletscher und Felsengipfel sich aufklären will, es zu den Beschreibungen des englischen Alpenclubs greifen muss.» Der SAC wird sogleich ein Erfolgsclub. Kurz nach der Gründung treten vier Bundesräte bei. Bei einigen SAC-Sektionen werden anfangs noch bergsteigende Frauen und «Fräuleins» akzeptiert, zumeist als «Tochter» oder «Ehefrau» registriert, 1907 dann aber offiziell ausgeschlossen. Bei den Engländern bleiben die Ladys von Anfang an draussen. Sie gehen gar soweit, dass die Hündin «Tschingel» Ehrenmitglied wird, aber nicht ihr «Frauchen», die Alpinistin Meta Brevoort. Mit ihr und ihrem Neffen William A. B. Coolidge hat «Tschingel» 66 grosse Bergtouren unternommen. Frauen nimmt der Alpine Club ab 1974 auf, der SAC