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      Ein Lesebuch zu Schweizer Kindheit: Autorinnen und Autoren aus allen Landesteilen erinnern sich. Sie waren Wunschkinder, aber manchmal auch ein Esser zu viel. Sie wuchsen an der Zürcher Goldküste auf oder im hintersten Walliser Bergtal, im Dorf, in der Stadt, auf dem Bauernhof. Sie waren Kinder von Fabrikbesitzern, Bäckern, Pfarrern, Arbeitern, Wirten, Migranten. Sie wurden gehätschelt oder verdingt, gefördert oder übersehen, verwöhnt oder geschlagen. Sie lernten, spielten, arbeiteten und beobachteten die Erwachsenen und deren Tun. Rund dreissig Autorinnen und Autoren erinnern sich an ihre Kindheit an ihrem Ort in der Schweiz: im Tessin, Graubünden, Wallis, Basel, Bern, Zürich, St. Gallen, im Jura oder im Emmental … Neben bekannten Namen wie Charles-Ferdinand Ramuz, Laure Wyss, Niklaus Meienberg, Friedrich Glauser, Aline Valangin oder Daniel de Roulet schreiben viele Nichtprominente, denen allen eines gemeinsam ist: Sie wissen packend, anschaulich, sinnlich und prägnant Geschichten aus ihrer Kindheit zu erzählen. So entsteht ein einzigartiges Panoptikum von Kindheit in der Schweiz des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts.

      Kindheit in der Schweiz

      Erinnerungen

      Herausgegeben und mit einem Vorwort von Erwin Künzli unter Mitarbeit von Patrizia Huber

      Limmat Verlag

      Zürich

      «Es sind die Mütter, die sich erinnern, die Liebenden und die Dichter.»

      Erika Burkart

      «Jemand hat gesagt, es sei nicht gut, an den Ort seiner Kindheit zurück­zu­kehren. Vielleicht hatte er recht. Ein Wiedersehen, man weiss es, kann ­enttäuschen, weil unterdessen so vieles geändert hat, die Gegend aussen und die Gegend innen. Die Kindheit, die noch ein Versprechen war, liegt schon weit zurück, eine verdämmernde Traumwelt; und was nachher kam – ein ­Leben mehr oder weniger fragwürdig, eine Kette von Wider­sprüchen, Niederlagen und Versäumnissen, fragmentarisch wie alles. Hat man sich überhaupt ­gekannt? Weiss man, wer man gewesen ist und wer man ­hätte sein können?»

      Oscar Peer

      Erzählte Kindheit

      —

      «Wie es war – war es so?»

      Laure Wyss

      Vierunddreissig Personen erzählen aus ihrer Kindheit in der Schweiz der letzten beiden Jahrhunderte. Der älteste, Jakob Senn, war ein Zeitgenosse von Gottfried Keller, er wurde 1824 in Fischenthal in ärmlichste Verhältnisse geboren, die jüngste, Meral Kureyshi, wurde 1983 in Prizren im Kosovo geboren und kam mit zehn Jahren in die Schweiz.

      Die Texte stammen aus Büchern, die im Limmat Verlag im Verlauf der vierzig Jahre seit seiner Gründung erschienen sind. Sie sind alle in der Ich-Form gehalten, Erwachsene erzählen selbst aus ihrer Kindheit – auch wenn sie das Erzählte manchmal nicht selbst aufgeschrieben haben. Dabei wurden auch Auszüge aus Texten aufgenommen, welche die Gattungsbezeichnung Roman tragen, aber erklärtermassen autobiografisch geprägt sind. Die neuere Gedächtnisforschung hat festgestellt, dass Erinnerung etwas sehr Bewegliches und Veränderliches ist und dass das Erinnerte im Augenblick des Erinnerns gewissermassen ‹erfunden› wird. In diesem Sinn können wir mit Fug und Recht feststellen, dass alles ‹wahr› ist, was in diesem Buch steht.

      Die Anthologie versucht nicht, irgendeine Art Geschichte der Kindheit in der Schweiz abzubilden, das ist einerseits kaum möglich, andererseits ist es erstaunlich, wie sehr sich die Welten der Kinder vom neunzehnten bis in die Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts noch ähneln – fast möchte man sagen, dass die Schichtunterschiede prägender sind als die historischen. Das Auffallendste ist vielleicht, wie selbstverständlich Kinder arbeiteten, wie stark das Leben geprägt war von Religion und allerlei Autoritäten und wie selbstverständlich Kinder gestraft und geschlagen wurden, zu Hause, in der Schule. Daneben taten sie das, was Kinder bis heute tun: Spielen, Lesen, Lernen – nicht zuletzt durch das Beobachten der wunderlichen Welt der Erwachsenen.

      Die Texte sind also nicht chronologisch angeordnet, der Reigen beginnt mit Geburt und ersten Erinnerungen, dann gibt der eine dem andern das Stichwort, als sässen die vierunddreissig Menschen zusammen, erzählten sich ihre Geschichten, und eine Erzählung ruft die nächste auf. Für die Leser und Leserinnen entsteht so ein weites Panorama der Kindheit, das sie vielleicht im Kopf mit ihren eigenen Erinnerungen ergänzen werden.

      Erwin Künzli

      1908, Val d’Anniviers VS

      Adeline Favre

      —

      Ich wurde an einem 22. Mai geboren. Mama war an jenem Tag ganz allein zu Hause, denn mein Vater war ins Tal hinunter gegangen, um nach den Reben zu sehen. Im Tal unten war ein halber Meter Schnee gefallen, eher ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Wie alle Leute aus dem Val d’Anniviers hatten auch wir in der Gegend von Sierre, in ­Niouc, unsere Reben. Sie waren für uns fast die einzige Quelle für Bargeld, und eine Naturkatastrophe brachte schwe­re finanzielle Folgen für das kommende Jahr. Nun hatte Papa in diesem Jahr vorgearbeitet und die Reben schon frühzeitig aufgebunden. Dies im Hinblick auf meine bevorstehende Geburt: Er wollte zu Hause sein, wenn er benötigt wurde. Als er an diesem 22. Mai den Schnee sah, stieg er sofort ins Tal hinunter, um den Schaden an den Reben festzustellen. Es zeigte sich übrigens, dass er nicht so gross war wie bei den Nachbarn. Papa hatte auch die Kühe hinuntergetrieben, damit sie die abgebrochenen Zweige fressen konnten, die er auf dem Rücken des Maultiers bis nach Niouc gebracht hatte. Hierher trug man auch die dürren Rebenblätter, die man mit Heu mischte und den Kühen zu fressen gab.

      So musste mich Mama an jenem 22. Mai allein zur Welt bringen. Zudem wurde ich in Steisslage geboren. Die Hebamme, Madame Pont, eine Cousine von Mama, sagte zu ihr: «Ich kann dir nicht helfen, du musst es ganz allein fertigbringen. Ich kann dir nicht helfen …» Sie betete in einer Ecke des Zimmers, und Mama presste.

      Madame Pont war verzweifelt, dass sie nicht helfen konnte. Zu ihren Gunsten muss man sagen, dass die Hebammen damals nicht vorbereitet waren auf Komplikationen und dass ihnen die medizinischen Kenntnisse, die mir später zugute kamen, fehlten. Sie taten ihr Bestes mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Oft allerdings blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu beten …

      Weil Papa nicht da war, holte Madame Pont voller Angst ihren Mann zu Hilfe. Es geschah oft, dass der Ehemann der Hebamme zur Hand ging. Monsieur Pont war Schuhmacher. Mama hat uns später oft erzählt, wie sie sich um seinen Hals geklammert hatte, um besser pressen zu können. Ich war offenbar ein recht grosses Bébé, das achte und das erste der zweiten Hälfte von vierzehn Kindern.

      1939, Meggen LU

      Otto Scherer

      —

      Kaum auf der Welt, da ging der Teufel los. Der Vater und der Karrer mussten einrücken. Die beiden Pferde und ein Wagen wurden eingezogen. Der Melker schirrte den Zuchtstier und eine Kuh ein und versuchte, den widerspenstigen Viechern das Fuhrwerken beizubringen. Joch und Geschirr waren noch oben in der Remise geblieben vom Ersten Krieg.

      1939. August, September, Oktober. Die Ernte war in vollem Gang. Oder eben nicht. Das Emd verfaulte draussen im Regen, die Kartoffeln warteten darauf, eingebracht zu werden. Das Mostobst sollte auf- und das Tafelobst abgelesen werden. Arbeit, wohin man schaute. Und zu wenig Hände, die zupacken konnten.

      Wohl hatten die im Dorf einquartierten Truppen die Bauern und Knechte unter ihren Soldaten auf die Höfe zum Helfen abkommandiert. Aber im Eiholz fehlte der Meister. Dieser grub als Artillerie­kanonier hinter der Grenze Haubitzenstellungen aus, übte den Gewehrgriff, das Marschieren in Zweier-, Vierer- und Achterkolonne, das Zerlegen und Zusammenbauen der Waffen, das Schiessen. Aber auch das Faulenzen. Das war von allem beinahe das Schlimmste, denn er wusste von der Lücke, die er zu Hause hinterliess. Er ging fast drauf vor Sorge um Hof und Familie. Wer sollte jetzt dort das Zepter führen? Der gebrechliche, aber immer noch resolute Grossvater, der Karrer oder der Melker? Wohl jeder gegen jeden. Alles gehe drunter und drüber, hatte ihm Mutter geschrieben. Keiner pariere, keiner setze sich durch.

      «D’Allmänd abhaue!»

      «Domms Züg!

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