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Hutstumpen und Geflecht aus Stroh her. Daraus werden für die Herren «Boater» genäht, wie der klassische Sommerhut auf Englisch heißt. In Wohlen, einem Flecken im aargauischen Freiamt, ist der «Boater» schlicht ein «Röhrlihut». Die Strohindustrie, wie das Dorf seinen Welthandel mit Hutgeflecht nennt, ließ nicht nur Franz auswandern, sondern sie trug auch Schuld daran, dass Bertha, geborene Zimmermann, und Hans Heinzelmann einst von der Arbeit aufsahen und schließlich gemeinsam die Zukunft planten.

       Die Sippe und ihr Selbstbewusstsein

      Während Fräulein Zimmermann an ihrem Stehpult Briefe schreibt, beobachtet sie heimlich den jungen Herrn Heinzelmann, und dieser wirft ihr beim Blättern im Kontobuch verlegene Blicke zu. Im Kontor der Strohfirma Oskar Bruggisser steht sein Pult dem ihren gegenüber, und die beiden können sich, beiläufig, auch geradewegs in die Augen schauen, das heißt, er muss leicht zum Fräulein emporblicken.

      Zwischen ihren Stehpulten hängt von der Decke an einem langen Kabeldraht eine Glühbirne, deren Licht von einem schmucklosen Schirm gedämpft wird. Die Beleuchtung ist für beide Pulte gleich schlecht, und da zieht er die Lampe zu sich hinüber, kurz nur, scheinbar um im Kontobuch besser lesen zu können, freilich in der Absicht, dass die Beleuchtung am Kabeldraht zu ihr hinüber schwingt. Diese Lampe zupfen sie nun hin und her, er mittleres Kader mit kaufmännischer Ausbildung, sie Büroangestellte und Absolventin eines Töchterinstituts, er weltgewandt mit Sprachaufenthalten im Welschland und in Italien, in Brüssel und London, sie mit zusätzlichem Schliff aus der angesehenen Zürcher Koch- und Haushaltungsschule von Elisabeth Fülscher. Er wird, kaum volljährig, von der Firma auf Handelsreisen in den Nahen Osten geschickt, und sie ist im damals vorwiegend männlichen Bürobetrieb eine Ausnahmeerscheinung.

      In Wohlen, dem einstigen Bauerndorf, das mit Stroh zu Reichtum kam, zupfen und schubsen die beiden so lange die Bürolampe, bis sie sich 1913 heiraten.

      So oder ähnlich haben Familienmitglieder die Geschichte zum Besten gegeben, wie Bertha Zimmermann aus Wohlen und Hans Heinzelmann aus dem benachbarten Boswil einen Hausstand gründeten. Erzählt Gertrud Heinzelmann als Achtzigjährige die Geschichte ihrer Eltern, legt sie Wert darauf, dass die Lampe exakt in der Mitte zwischen den Pulten von der Decke hing und beide gleichermaßen daran zogen. Kein Wort, dass die Mutter den Vater um einen halben Kopf überragte. Bei der Heirat ist Franz Johann Heinzelmann, wie er mit ganzem Taufnamen heißt, 27 Jahre alt, Bertha Zimmermann ist ein Jahr älter und wird fortan Hausfrau sein. Für das Hochzeitsbild wählte der Fotograf den Bildausschnitt so, dass der Schemel nicht sichtbar ist, auf dem Hans gestanden haben muss. Von einem Brautschleier und ähnlicher Ausrüstung wollte Bertha nichts wissen. In hellem Kleid mit Spitzen und Rüschen steht sie Schulter an Schulter neben ihrem Mann, ihre ausladenden Achselpolster, die kunstvoll aufgesteckten Haare lassen ihn noch schmächtiger und vergeistigter wirken. Der Hochzeiter hat die Enden seines wilhelminischen Schnurrbarts sorgfältig gezwirbelt, doch sein Gesicht bestätigt nicht die Wehrhaftigkeit, die der Bart vorgibt.

      Das junge Paar kauft sich schicke Möbel nach der damaligen Mode, Jugendstil, und nimmt sich im tonangebenden Neubauquartier am Dorfrand von Wohlen eine Wohnung. Es ist das Quartier des technischen Fortschritts und des neuen Reichtums, der Weltläufigkeit und Urbanität. In dessen Zentrum steht der Bahnhof, während die Kirche, der althergebrachte Mittelpunkt dörflichen Lebens, vom Bahnhof aus gesehen in die Ferne gerückt ist. Im Neubauquartier ragen die Türmchen der schmucken Villen der neuen Machthaber in den Himmel.

      «Strohbarone» werden sie genannt. Ihren Aufstieg verdanken sie der Industrialisierung, die aus vifen Geflechthändlern global operierende Fabrikbesitzer und Unternehmer gemacht hatte. Im Freiamt, einem lang gezogenen Landstrich, der zur Innerschweiz hin verläuft, war Wohlen einst ein armes Bauernnest. In kinderreichen Familien wurden in Heimarbeit aus Stroh, Rosshaar und Hanf Verzierungen für Sommerhüte geflochten, und die Händler brachten das Geflecht in Kutschen bis nach Sankt Petersburg. Nach 1860 beginnt ein schneller wirtschaftlicher Aufstieg, dicht gedrängt entstehen Fabriken, in denen Stroh gebleicht, gefärbt, zu Bändern und Bordüren geflochten und zu Hüten zusammengenäht wird. Bald folgt Wohlens Anschluss an die Südbahn, die geflochtenen Bänder werden in Waggons verladen und andernorts weiterverarbeitet. Kein anderes Dorf im Aargau geht derart mit der neuen Zeit, und als Zeichen dieses Fortschritts lassen sich die «Strohbarone» links und rechts der Bahngeleise nieder, umgeben ihre Anwesen mit kleinen Parks und viel Schmiedeeisen, und sie sorgen dafür, dass Wohlen auch bald ein eigenes Elektrizitätswerk und Telefonanschlüsse erhält.

      Mit den «Strohbaronen» ziehen ihre oberen Kader ins Nobelquartier, Prokuristen, Kassierer und Handelsvertreter, Aufsteiger oder besseres Bürgertum, das dank kaufmännischer Ausbildung, Manieren und Mehrsprachigkeit die nötigen Voraussetzungen mitbringt, um in den Kontoren den weltweiten Handel abzuwickeln. Man lebt mit den «Strohbaronen» Tür an Tür, doch diese achten auf die nötige Distanz. Ihre Anwesen öffnen die Bruggisser, Isler, Walser und Dreifuss vorzugsweise für ihre ausländischen Handelspartner. Mit unternehmerischem Blick für die Zukunft bahnen sie Ehen untereinander an, oder sie führen von ihren Reisen Amerikanerinnen und Kubanerinnen nach Hause, und diese wiederum bringen ihre schwarzen Dienstmädchen mit. Die Herren knattern mit den ersten Autos durchs Dorf, ihre Frauen zeigen sich in der neusten Garderobe, und ein Dienstmädchen soll seinen Affen ausgeführt haben. Dieses mondäne Treiben erscheint den Bauern in den umliegenden Dörfern und Höfen wie das Pariser Leben, und Wohlen erhält den Übernamen «Chly-Paris». Mit Genugtuung beobachtet man da und dort, wie dieses Klein-Paris alle modernen Begleiterscheinungen aufweist, die man selbst verteufelt: aufmüpfige Arbeiter und gewerkschaftliche Regungen, freisinnige Vorherrschaft statt wie allgemein im Freiamt katholisch-konservative Verhältnisse, Luxus und Vergnügen statt Demut und Kirchenbesuch.

      Blicken Hans und Bertha Heinzelmann-Zimmermann aus den Stubenfenstern, sehen sie direkt zum Bahnhofsgebäude hinüber, und sommers, bei geöffneten Fenstern, hören sie den Maschinenlärm aus der Parallelstraße, wo die größte Wohler Hutgeflechtfabrik steht. Ihr Direktor residiert in seiner Villa im französischen Rohbaustil gleich hinter dem Heinzelmannschen Mietshaus. In aufrechter Haltung, stets piekfein gekleidet sei Hans Heinzelmann aus dem Haus getreten und die Straße zum nahen Geschäftshaus von Oskar Bruggisser hinunter gegangen. Eine respektable Persönlichkeit sei er gewesen, die man höflich zu grüßen hatte, sagt Guido Strebel, der einstige Nachbarsjunge im Alter von Gertrud. Die Firma Oskar Bruggisser ist klein und angesehen und hat sich auf Bleichen und Färben spezialisiert. In Dresden, Hamburg oder London wird billiges Strohgeflecht aus Asien erworben, in Wohlen veredelt und dann gewinnbringend weiterverkauft. Vor allem die «Diamant-Bleiche», die in ganz Wohlen nur Oskar Bruggisser beherrscht, ist sehr gefragt. Die Strohhalme, von Natur aus goldgelb glänzend, werden mit chemischen Bädern behandelt, bis sie silbern schimmern.

      Wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kommt am 17. Juni 1914 Gertrud zur Welt, zwei Jahre später am 13. Juni Elisabeth. Die beiden Schwestern sind in mancher Hinsicht sehr verschieden, mit Gertrud Heinzelmanns Worten: «Es ist, als ob wir nicht aus demselben Kübel wären.» Gertrud ist die lebhaftere, die auf Bäume klettert, Pfeilbogen schießt, beim Puppenspielen den Männerpart übernimmt und sich auf dem Pausenplatz beschützend in der Nähe der Schwester aufhält. Die Gleichaltrigen nennen Gertrud «Heinz», und der männliche Vorname wird ihr die ganze Schulzeit hindurch bleiben. Obwohl sie wilder und kecker ist als viele, macht sie bei Streichen meist nicht als Anführerin mit, denn dazu ist sie wiederum zu pflichtbewusst und zu fleißig. Ihr Ehrgeiz gilt der Schule, und als 14-Jährige lässt sie den «lieben Onkel Päuli» in Brasilien wissen:

      «Auf das Examen mussten wir immer sehr viel Hausaufgaben machen, so dass ich kaum an einem freien Nachmittag einige freie Stunden erbeuten konnte. (…) Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen nämlich: dass ich um 1 ganze Note das bessere Zeugnis habe als meine ärgste Nebenbuhlerin!»1

      Die Mutter ist erleichtert, als sie von der Großmutter ein altes Lexikon bekommt, damit sie die Fragen ihrer Ältesten nachschlagen kann. Das «Trutli» ist anstrengend, will ständig argumentieren und noch mehr erklärt haben. Dagegen ist «Bethli», die Jüngere, ein

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