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Martin traurig, führte er lasch. Im Glück wurden seine Arme zu ihren, sie hatten vier Füße, waren Vor- und Rückseite. Ob er mit seinem Freund auch tanzt? Sie schaut aus dem Fenster. Auf dem Dachfirst gegenüber hackt eine Krähe auf etwas Rundem herum. Eine Nuss? Alice begreift nicht, was Martin mit Pong verbindet. Er sei fröhlich, sagt Martin, zärtlich. Jeden Tag sage er, wie gut Martin aussehe, wie groß er sei, wie kräftig. «In der Schweiz wäre ich nur ein alter Mann.» Außerdem werde es in Thailand nie richtig kalt, nie grau, das Essen schmecke, die Menschen seien liebenswürdig. Immer sei Zeit für Worte und ein Lächeln. Ihr würde das nicht genügen, um zu einem Mann auszuwandern, den sie von fünf mal fünf Wochen Ferien kennt und mit dem sie sich nicht in der Muttersprache unterhalten kann. «Ich werde Thai lernen», sagte Martin vor der Abreise. «Ich fange ein neues Leben an.»

      Alice setzt sich an den Computer, tippt:

       Liebes Radio

       Seit ich vor zwei Jahren altershalber das Ballero, meine Tanzschule, verkauft habe, höre ich das Wunschkonzert und zeichne dazu. Jeden Tag ein Blatt ist mein Vorsatz.

       Mir ist aufgefallen, dass sich in letzter Zeit ein gewisser Alexander Seibt auf meine Musikwünsche bezieht. Darf ich Sie bitten, ihm den beigelegten Brief weiterzuleiten?

       Freundliche Grüße

       Alice Maag

      Sie denkt nach. Auf dem Bildschirm schlägt der Cursor den Takt. Schreib – schreib – schreib. Sie schreibt:

       Sehr geehrter Alexander Seibt

       Es freut mich, dass wir den gleichen Musikgeschmack haben. Gehen Sie oft ins Konzert? Ich habe selten Gelegenheit dazu. Alleine gehe ich nicht gerne aus. Deshalb höre ich das Wunschkonzert und freue mich jedes Mal über Ihre anregenden Wünsche. Ich würde mich über ein paar Zeilen von Ihnen freuen – auch gerne per E-Mail.

       Freundliche Grüße

       Alice Maag

      Sie liest den Brief durch. Was, wenn er verheiratet ist? Die Krähe auf dem Dach trippelt um die Nuss herum, versucht erneut, sie zu knacken. Alice druckt die beiden Briefe aus, unterschreibt sie und steckt sie in einen Umschlag. Die Nuss rollt hinunter, der Vogel schwingt sich in die Luft. Alice öffnet das Fenster. The winner takes it all dringt zu ihr. Das Hoffest! Fast hätte sie die Einladung vergessen. Heute Abend will sie tanzen.

      2

      Den Kopf ans Zugfenster gelehnt, beobachtet Fleur die Klassenkameraden. Sie dösen oder lesen für den Deutschunterricht die Briefe vom 1. Juli bis und mit 8. August aus Die Leiden des jungen Werthers. Fleur hat schon die ganze Geschichte gelesen. Sie äugt in Michaels Buch, um sich ins Gedächtnis zu rufen, worum es in diesen Kapiteln geht. «Wir sehen glückliche Menschen, die wir nicht glücklich machen, und das ist unerträglich.»

      Im Abteil nebenan unterhält sich Geschichtslehrer Minder mit Cleophea. Da haben sich zwei gefunden. Cleophea, die schon als Kleinkind die Erzählungen aus der griechischen Mythologie vorgelesen bekam und Archäologin werden will, und Minder, der eine Heilige in der sixtinischen Kapelle als die schönste Frau der Welt bezeichnet. Er streicht sich eine Haarsträhne über die Glatze und zieht Luft zwischen den Zähnen hindurch. «Dieses Zischen», stöhnt Michael. Früher wäre Sarah neben Fleur gesessen, hätte sich an sie gelehnt. Sie hat ihren Geruch noch in der Nase. Körperdunst vermischt mit Indianerseife aus dem Welt-Laden. «An meinen Körper kommt nichts, was die Umwelt belastet», sagte Sarah. Sie war in allem konsequent, viel konsequenter als Fleur. Stur ist sie, fanatisch. Wie kann sie sich von dieser Sekte einnehmen lassen. Sarah, die Kritische. Früher hätte sie in der Klosterkirche, zu der Fleur mit der Klasse unterwegs ist, Fragen gestellt zur Rolle des Abtes und des Papstes, sie hätte den Zehnten, den die Landbevölkerung abgeben musste, verurteilt, und die Unterdrückung der Frauen in der katholischen Kirche kritisiert. Und jetzt versucht Sarah alle, die ihr begegnen, davon zu überzeugen, dass sich Darwin irrte und die Menschheit von Adam und Eva abstammt. Sie hat es Fleur gegenüber mit dem Staub begründet, der überall liegt. Fleur hat den Zusammenhang nicht begriffen. Nächtelang diskutierte sie mit ihr, aber Fleur ist nicht bibelfest. Jedes Mal, wenn Sarah aus der Bibel zitierte und zu einer Interpretation ausholte, zum Beispiel, Homosexualität sei eine Sünde, zog Fleur den Kürzeren. Sie war sicher, dass Sarahs Auslegung nicht stimmte, mit Bibelversen belegen konnte sie es nicht. «Gott hat nichts gegen Liebe, falls es ihn überhaupt gibt, und ein Wort enthält keine absolute Wahrheit», versuchte sie es. «Nimm als Beispiel das Wort Freiheit. Es kann das Gegenteil von Knechtschaft bedeuten, Bewegungsfreiheit, Ungebundenheit, Eigenverantwortlichkeit, Anarchie, Selbstbestimmung, Freizügigkeit. Das hast du doch auch gelernt.» Sarah meinte, es sei nun mal so, dass Gott die Bibel diktiert habe, und sie gehöre zu den Auserwählten, die sie verstünden.

      Im Skilager stand Michael Fleur bei, auch Cleophea appellierte an Sarahs Vernunft: «Wir leben nicht mehr wie die Vorfahren im alten Testament, sonst wärest du längst verheiratet.» Sarahs Augen blitzten, doch ihre Stimme klang beherrscht, als sie sagte: «Ihr wisst es nicht besser, mit euch redet Gott nicht.» Wie denn Gottes Stimme klinge, fragte Cleophea. Sarahs Blick wurde schneidend. «Du hast wirklich keine Ahnung. Ich werde ihn bitten, dir zu verzeihen.» Sie stand auf und ging.

      «Sie spinnt», sagte Michael nach einer Weile. Fleur sagte nichts. Sie machte sich Vorwürfe. In den Sommerferien, in denen Sarah sich mit Sektenanhängerin Miriam traf, war Fleur mit der Mutter zwei Wochen in Südfrankreich und eine Woche im Fotokurs. Sie hätte wissen müssen, dass sich Sarah ohne sie einsam fühlte. Warum suchte sie ausgerechnet Miriams Gesellschaft? Weil Miriam von der Schule geflogen war? Nach den Ferien erzählte Sarah, Miriam habe ihren Weg gefunden. «Sie ist nicht mehr wütend über ihren Rausschmiss», sagte sie, «Miriam regt sich auch sonst über nichts mehr auf.» Fleur wusste nicht, was daran gut sein sollte. Sie und Sarah waren stolz darauf, dass Ungerechtigkeit sie empörte. Sie schwiegen nicht, wenn ein Mitschüler fertiggemacht wurde. Das Bild eines hungernden Kindes im Fernsehen trieb ihnen Tränen in die Augen. «Wir wollen nie abstumpfen», schrieb Sarah in Fleurs und Fleur in Sarahs Geschichtsbuch. Aus Sorge um die Umwelt klebten sie Protestkleber gegen Atomkraft auf Heizpilze und WC-Türen. Sarah fuhr auch im Winter mit dem Fahrrad zur Schule und nahm an Waldputzaktionen teil. Überhaupt war sie die Aktivere als Fleur. «Du bist die Glut, ich das Feuer», sagte sie. Und nun bewundert sie Miriams Ausgeglichenheit. «Der Glaube gibt Miriam die Kraft, jede Unbill auszuhalten.» Sarah sagte tatsächlich «Unbill». «Wie kannst du für Gefühllosigkeit eintreten», warf Fleur ihr vor. «Miriam ist nicht ruhig, sondern gleichgültig.» Vor drei Wochen zog Sarah zu Miriam und verließ die Schule.

      Fleur wird überfallen von der Helligkeit des renovierten Kirchenschiffs. Die Farben strahlen eine Zuversicht aus, die sie bedrängt. Sie packt ihre Kamera aus und hält fest, wie das Sonnenlicht in Bündeln durch eine Rosette fällt und einen Säugling an der Empore beleuchtet. Wie kamen die Künstler dazu, Engel als Babys darzustellen? Ein Baby, das fliegt, statt zu zappeln. Ein Engel, der schreit und Milch ausspuckt.

      Fleur geht an Bankreihen vorbei zur Marienkapelle, vor der Kerzen brennen. Maria trägt ein besticktes, erdbeerrotes Kleid und ist mit Goldschmuck behängt wie eine Königin. Das Jesuskind sitzt aufrecht auf ihrem Arm. Fleur fotografiert die Statue. Neben ihr bekreuzigen sich zwei Tamilinnen, legen einen Umschlag nieder. Einen Brief? Eine Spende? Stünde Sarah neben ihr und wäre sie wie früher, flüsterte Fleur ihr zu: «Mit dem Geld geht Maria shoppen.»

      Im Augenwinkel sieht sie, dass Lehrer Minder sie zu einer Wand voller Bildtafeln winkt. Ihre Schuhsohlen quietschen, als sie zu ihm eilt. Vor der Wand lacht sie auf. Auf fast allen Bildern ist Maria wie von Kinderhand gemalt zu sehen. Einmal thront sie auf einer Wolke über einer kurvigen Landstraße, auf der ein Auto mit einem Traktor zusammengekracht ist. Auf einem anderen Bild steht sie am Himmel über einem Mühlerad. In Schnörkelschrift steht darunter: «Madonna hat geholfen.» Der Geschichtslehrer erklärt, die Votivtafeln seien Teil eines Handels. Der Gläubige verspreche Maria unter der Bedingung, dass sie ihm aus der Patsche helfe, ein Bild in der Wallfahrtskirche und einen Eintrag ins Mirakelbuch. «Votiv kommt vom lateinischen votum, Gelübde. Hier», Minder deutet auf eine Frau, der ein Arzt den Bauch

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