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Ich bin ein Dieb. Friedrich Glauser
Читать онлайн.Название Ich bin ein Dieb
Год выпуска 0
isbn 9783857919374
Автор произведения Friedrich Glauser
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die Dämmerung war dicht geworden. Kreibig sprang auf, drehte das Licht an. Der Tote streckte noch immer seine halbgeschlossenen Fäuste gegen die Zimmerdecke …
… Wer hatte nur eine Widerlegung des Kieseritzky-Gambits gefunden? …
Kreibig beugte sich noch einmal über den Toten, öffnete das Hemd, das der Gerichtsarzt geschlossen hatte. Die Wunde war klein, sauber, mit ganz scharfen Rändern, nicht zerfranst …
… Wie von einer Lancette, dachte Kreibig, ging zur Tür, schloss sie von außen ab und ging die Treppen hinunter.
«Wie sieht eigentlich der Herr Swift aus?», fragte er den Portier.
«Der Herr Swift? Der ist klein, alt und zittert sehr viel in den Knien und mit die Händ …»
«So, so», sagte Kreibig nur, zog seine Glacéhandschuhe an, die ziemlich abgeschabt waren.
Im Bureau ließ er sich ein Verzeichnis der Spezialärzte Wiens kommen. Er ging die Namen durch. Plötzlich, fast am Ende der Liste, sprang er auf und begann, mit der Handfläche der rechten Hand eifrig auf seine Stirn zu schlagen. «Natürlich!», sagte er dazu. «Selbstverständlich! Das königliche Spiel! Der König des Spiels! Der Meister! Der Schachmeister! Der Zuckermeister!» Und klatschte weiter gegen seine Stirn. Bis schließlich Hochroitzpointner sachte die Türe öffnete, erschrocken ins Zimmer äugte und leise bemerkte:
«Ich hab geglaubt, der Herr Hofrat hat seinen Buben bei sich und haut ihm Watschen herunter.» Wozu zu bemerken ist, dass Watschen der Wiener Ausdruck für Ohrfeigen ist.
«Und der Swift, lieber Hochroitzpointner?», fragte Kreibig.
«Der Swift ist so eine Art Kurier bei der englischen Gesandtschaft. Der ist fort. Im Auto. Ich hab fragen wollen, ob man die Grenzposten alarmieren soll …»
«Nicht nötig, nicht nötig, aber nehmen S’ eine Zigarette, lieber Hochroitzpointner …»
Das war nobel, denn eine simple Drama kostete damals …
«Ist der Herr Professor zu sprechen?», fragte Kreibig.
«Ich glaube …», antwortete der Diener.
«Es ist eine wichtige Sache, Kommissar Kreibig, melden Sie mich nur.»
Der Herr Professor trug einen schwarzen Gehrock, eine weiße Weste, aber sein langer Bart war eigentlich viel weißer als die Weste. Der Herr Professor war nervös. Er sagte, was man in solchen Situationen scheinbar immer sagt:
«Und was verschafft mir das Vergnügen?»
«Herr Professor», sagte Kommissar Kreibig, «warum haben Sie den Falotten erstochen?» (Falott ist ein plastischeres Wort für Lump.)
«Falott? Erstochen?», fragte der Professor.
«Haben S’ keine Angst, Herr Professor», sagte Kreibig gemütlich. «Es g’schieht Ihnen nichts. Es sind noch andere Leute da, die froh sind, dass der Kussmaul hin ist. Es ist so mehr ein Privattriumph von mir, denn der Tote hat mir ein Rätsel aufgegeben, und ich hab’s gelöst. Er hat nämlich ganz deutlich den Namen seines Mörders verraten.»
«So? Wie denn?»
«Würfelzucker in der einen Hand, den Schachkönig in der andern.»
«Und?»
«Und Schwarz hat die Erwiderung zum Kieseritzky-Gambit gespielt.»
«Verzeihen S’ schon, Herr Kommissar, aber ich hab wirklich keine Zeit …»
«Sie sind doch der Herr Professor Zuckertort, Spezialarzt für Diabetiker …»
«Ja, und …?»
«Sie haben im vorigen Jahrhundert einen Namensvetter gehabt, der war ein berühmter Schachspieler, der hat auch Zuckertort geheißen. Und Sie werden zugeben, dass der selige Kussmaul (fragt sich zwar noch, ob er selig ist) den Namen nicht besser hätte andeuten können. Der König, der Meister, dessen Name mit Zucker anfängt … Und jetzt sagen Sie mir, warum Sie ihn umgebracht haben. Ich hab keinen Verhaftbefehl, ich bin sicher, Sie sind im Recht gewesen, die Sache wird niedergeschlagen. Aber gönnen Sie mir den Privattriumph?»
«Warum ich das Schwein abgestochen hab? Warum?» Das Gesicht über dem weißen Bart wurde feuerrot. «Weil mir der Falott statt Insulin Brunnenwasser geliefert hat und weil mir zwei schwere Fälle fast an Sepsis zugrunde gegangen wären.»
«Ja so», sagte der Kommissar Kreibig, «Brunnenwasser statt Insulin …», und er empfahl sich.
Denn Insulin ist ja das einzige halbwegs sicher wirkende Mittel bei schweren Fällen von Zuckerkrankheit.
Vor dem Schild des Arztes blieb Kreibig noch einen Augenblick stehen, las es murmelnd für sich. Es stand da:
Prof. Dr. Regis Zuckertort
Spezialist für Stoffwechselkrankheiten
«Auch noch ‹Regis›, Genitiv von Rex, und im Gymnasium hab ich gelernt, dass Rex König heißt. Wirklich des Guten zu viel.»
Kommissar Kreibig zog kopfschüttelnd seine schadhaften Glacéhandschuhe an, trat auf die Straße und spannte seinen Regenschirm auf, weil es ganz sanft regnete. Er verschwand im Straßengetümmel, während ihm aus einem Fenster im ersten Stock ein weißbärtiger Herr nachsah, der vielleicht zum ersten Mal in seiner langen medizinischen Laufbahn es für nötig fand, über ein psychologisches Problem nachzugrübeln.
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