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die wenigen Aristokraten, die ihr Adelsprädikat behalten haben, zum Zeichen der Trauer ihre Fensterläden und gehen den ganzen Tag nicht aus dem Haus. Daher lässt auch der Arzt, ein gewisser de Rougemont, an diesem Tag Gebärende mit der Hebamme allein. An einem 1. März wird nicht entbunden, damit das klar ist.

      Wolfgangs Vater ist der Besitzer der Buchhandlung Librairie du Progrès. Seine Mutter hat auf eine Karriere als Pianistin verzichtet, um vier Kinder zur Welt zu bringen. Erst Wolfgang, dann drei Mädchen, die nach dem Willen des Vaters Alpha, Beta und Gamma genannt werden. Die Mutter ist nur stolz auf ihren Ältesten, will einen Dirigenten aus ihm machen. Deshalb lernt er neben Latein, Griechisch und Englisch auch Geige. Das Konservatorium übernimmt es, sein musikalisches Talent zu fördern. Er lässt nicht gerne starke Gefühle zu. Sein Geigenlehrer regt sich auf: «Mehr Inbrunst, weniger Technik, lass dich mitreißen, Wolfgang, verflixt nochmal!»

      Schon als Kind begeistert er sich für die Wissenschaft, liest keine Romane, weil darin erfundene Geschichten erzählt werden. Die Wahrheit steht in wissenschaftlichen Handbüchern.Physikbücher zum Beispiel erklären, warum Körper fallen. Wäre ein Roman je in der Lage, die Anziehungskraft des Kerns auf die Elektronen zu erforschen? Jedes Jahr zu Weihnachten dürfen die Kinder sich im väterlichen Geschäft ein Buch aussuchen. Die drei Mädchen begnügen sich mit Heidis Abenteuern in den Alpen. Ihr Bruder bevorzugt eine Logarithmentafel oder das Periodensystem der Elemente, zur Not eine Gelehrtenbiografie.

      Eines Tages liest er ein Buch über das beispielhafte Leben von Edison, dem Vordenker, der die Menschheit mit Hilfe des Gesetzes des geringsten Widerstands um mehrere erhellende Erfindungen bereichert hat. Dem jungen Edison ist es gelungen, ohne die Wärme einer Henne Eier auszubrüten, Wolfgang macht es ihm nach. Bei einer Bäuerin, die jeden Montag auf dem Marktplatz steht, besorgt er sich zwei frische Eier. Er versteckt sie unter seiner Bettdecke und sorgt dafür, dass sie dort in gleich bleibender Wärme liegen. Tagsüber wickelt er jedes Ei in eine Socke und steckt sie sich in die Taschen. Seinen Berechnungen zufolge müssten die Küken am Sonntag schlüpfen. Er wird also ausgiebig Zeit haben, ihnen dabei zuzusehen. Leider besteht die Mutter am Samstag darauf, dass er kurze Hosen ohne Taschen trägt, sodass es den Eiern an Wärme fehlt. Den Mangel meint er ausgleichen zu können, indem er sie eine Zeit lang in heißes Wasser legt, im Glauben, die doppelte Temperatur in der halben Zeit führe zum gleichen Ergebnis. Resultat: Weder am Sonntag noch an den folgenden Tagen schlüpfen die Küken aus ihrer Schale. Wie hat Edison das bloß geschafft?

      Wolfgang macht weitere Experimente zum Flug von Fledermäusen, die er tagsüber weckt, mit unsichtbarer Tinte, mit dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre. Er kommt zu vorhersehbaren Ergebnissen, zu Variationen über ein gegebenes Thema, macht jedoch keine Entdeckung. «Nichts Neues unter der Sonne», bestätigt seine Mutter. Worauf ihr Mann zu ergänzen wagt: «Außer dem Fortschritt, mein Schatz.» Trotz aller Bewunderung für seine Mutter weiß Wolfgang, dass sie kaum an die Erzeugung eines Kükens fern der Wärme einer Glucke glaubt. Er möchte für sie etwas Neues erfinden oder entdecken, dann würden sie gemeinsam den Nobelpreis in Stockholm abholen.

      Seine erste Freundin lernt Wolfgang auf dem Jahresabschlussfest kennen. Heidi, die älteste Tochter des Pfarrers, trägt denselben Namen wie das kleine Waisenmädchen, das immer krank wird, wenn es seinen Großvater und die Alpenluft verlassen muss. Wie im Bilderbuch seiner Schwestern hat auch diese Heidi schöne blonde Zöpfe, aber wenig Talent zum Lernen. Einmal in der Woche verabredet Wolfgang sich nach seiner Geigenstunde mit ihr im Cafè Moreau an der Avenue Lèopold-Robert. Dort setzen sie sich nebeneinander, um die Passanten besser beobachten zu können, benoten deren Aussehen und dichten ihnen eine Biografie an. Aber es fehlt ihnen an Fantasie, außer bei Paaren, bei denen sie rasch einen möglichen Trennungsgrund ausmachen.

      Wolfgang hat keinen Freund. Er hat das Gefühl, nur junge Mädchen könnten ihm eine angenehme Gesellschaft leisten, sie verstehen das Innere der Dinge. Will man wissen, um wie viel Uhr ein Zug abfährt, ist das Geschlecht des Auskunft Erteilenden ziemlich egal, geht es aber um Stimmungen, um Gefühle und vor allem um Unsagbares, wendet man sich lieber an eine Frau. Nur Frauen stellen sich dieselben Fragen wie er: Wo ende ich, und wo beginnt die Welt?

      Bei Heidi weiß er nicht so recht weiter. Ausgerechnet über ein Thema kann er nicht mit ihr sprechen, nämlich: Sollte man seine Liebe gleich zu Beginn offenbaren? Oder macht man sich damit lächerlich? Und dann diese tausendmal gewälzte Frage: Wird die Liebe die Freundschaft töten?

      Da er beides noch nie erlebt hat, sind seine Sorgen rein theoretischer Natur. Für den Fall, dass eines Tages die Wirklichkeit ins Spiel kommen sollte, macht er sich jetzt schon auf Schwierigkeiten gefasst. Seine Mutter ist ihm dabei keine Hilfe. Anfangs, als sie noch nicht weiß, dass ihr Sohn sich auf eine ernsthafte Beziehung vorbereitet, fragt sie ihn, ob er nicht ein wenig, wie soll man sagen, den Jungen zugeneigt sei. Wolfgang errötet, gerät ins Stottern und beflügelt den mütterlichen Verdacht nur umso mehr.

      Sein erster Versuch ist also Heidi. Mit ihr will er vorbeugend sämtliche Regeln für Treue, Lüge und Eifersucht festlegen. Sie versteht all diese Fragen nicht, die, solange er ihr nicht seine Liebe gestanden hat, ohne Inhalt bleiben. Eine Sache, die ihn bei der Planung seines Liebeslebens ganz besonders bewegt, ereignet sich, als er mit Heidi zur Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden verabredet ist. Er holt sie zu Hause ab.

      «Gefalle ich dir so, Wolfgang?»

      «Du hättest dir deine Zöpfe nicht abschneiden sollen.»

      «Das wolltest du doch.»

      «Und diese knallroten Lippen.»

      «Das wolltest du doch.»

      «So hohe Absätze.»

      «Du wolltest es, Wolfgang.»

      Das trifft ihn doppelt. Erstens, weil sie ihm ohne Zöpfe und ohne ihre blassen Lippen nicht mehr gefällt. Und zweitens, weil sie ihm einen unwiderlegbaren Beweis ihrer Liebe gibt. Er verkneift sich weitere Bemerkungen, schmollt jedoch den restlichen Abend, ohne sich zu trauen, ihr zu erklären, warum. Seine Schlussfolgerung: Niemals Liebesbeweise verlangen, sondern sich damit begnügen, welche zu bekommen.

      Wenig später versucht er in einem von einem Freund überlassenen Dienstbotenzimmer, wo eine Matratze auf dem Boden die Umarmungen abfedert, Heidi zu seiner Geliebten zu machen. Am nächsten Tag schickt er ihr glühende Liebesschwüre. Da es in seinen Zeilen auch um Krieg und einen eifersüchtigen Ehemann geht, bittet Heidi um Aufklärung. Er ist so ehrlich, ihr ein Exemplar von Stürmische Jugend zu schenken, auf dessen Seiten er die Sätze unterstrichen hat, die er sich für seinen Brief entliehen hat.

      Eines Tages wird Wolfgangs Mathematiklehrer Enoch Laplace auf seinen Schüler aufmerksam, als es zu beweisen gilt, dass jede beliebige Zahl den Wert eins annimmt, wenn man sie mit null potenziert. Wolfgang braucht zwei Minuten, um den Beweis zu formulieren. Eine Stunde später haben seine Klassenkameraden den Kniff immer noch nicht heraus. Enoch Laplace beglückwünscht ihn und nimmt ihn mit nach Zürich ins Büro des großen Kernphysikers Professor Scherrer. Der fragt Wolfgang, ob er glaube, die Physik werde alle Menschheitsprobleme lösen. Der Sechzehnjährige antwortete altklug: «Die Physik, jawohl, in Verbindung mit Intelligenz.» Professor Scherrer klopft ihm kräftig auf die Schulter: «Enoch, der Junge gefällt mir.»

      Während der Bahnfahrt zurück nach La Chaux-de-Fonds lässt Enoch Laplace sich zu einigen Vertraulichkeiten hinreißen: Ach, wäre er doch noch einmal sechzehn, läge doch das Leben noch vor ihm, er würde es der theoretischen Physik widmen. Und wie zu sich selbst sagt er mehrmals: «Armer kleiner Enoch, armer kleiner Enoch.» Sein Schüler schließt daraus, dass ihm das dritte Bier im Zürcher Bahnhofbuffet zu Kopf gestiegen ist.

      Nachdem Wolfgang einen Studienplatz an der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich bekommen hat, verlässt er seine Heimatstadt mit Bedauern. La Chaux-de-Fonds ist nicht irgendeine Stadt. Ein ganzes Regalbrett reserviert die Librairie du Progrès den lokalen Berühmtheiten. Wolfgangs Mutter ist sich sicher, dass auch ihr Sohn dort eines Tages seinen Platz finden wird. Einstweilen stehen hier Monografien zum Maler Lèopold Robert und zum Rennfahrer Louis Chevrolet, der gleich hinter dem Haus der Steinamhirschs geboren ist.

      In Zürich wohnt Wolfgang bei seiner

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