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Ich schreibe Dir eigentlich aus zwei Gründen:

      Als Leser hast Du mich schon so oft unterhalten und vergnügt oder auch nachdenklich gemacht, dass es an der Zeit ist, Dir das einmal dankend mitzuteilen, (…), und habe ich beschlossen, Dir dafür ein Exemplar meiner Diss zu widmen. Sie ist zwar im Gegensatz zu Deinen Produkten fast unlesbar und sie macht mit ihrem nackten Rücken auf jedem Büchergestell den denkbar schlechtesten Eindruck. Notfalls kann man sie aber immer noch als Notizbuch benutzen, halt von hinten nach vorne, umgekehrt in den Händen haltend. Ich hoffe, Du entschuldigst mein ungebetenes Eindringen in Deinen Briefkasten und bleibst weiterhin so tätig wie bisher! Alles Gute und freundliche Grüsse, Martin J.

      Nun, das ist keine einfache Lektüre, aber lohnend; man kann Chinesisch lernen: «Trapping der Cu-Be-Folien. Die Qualität der BeO-Oberflächen wurde durch Testbeschüsse mit 'He von 75 eV Energie und anschliessender massenspektrometrischer Mengenbestimmung überprüft. Die Beschussdaten und die Betriebsdaten des Massenspektrometers sind in Tabelle 2 angegeben. Als Extraktionsprogramm wurde das normale Einstufen-ExtraktionsprogrammIGE EX 1 bzw. IGE EX 2 mit einer Extraktionstemperatur von ca. 1650° C verwendet.» (Seite 9, 1.1.2). Da habe ich aber nun doch meine Bedenken wegen der Beschussdaten und möchte bezweifeln, dass hier das normale Einstufen-Extraktionsprogramm zu befriedigenden Resultaten führt, ich jedenfalls hätte da andersherum getrappt und auch die Temperatur um fünf Grad auf 1655° C erhöht, auch hätte ich das Schmelzing und Glühing der Cu-Be-Folien ganz ohne Testbeschüsse durchgeführt.

      Aber trotzdem ist diese INAUGURALDISSERTATION der philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde, vorgelegt von Martin J. von Dürrenroth/BE, ENTWICKLUNG VON METHODEN ZUR ANALYSE DER FOLIEN DER «INTERSTALLAR GAS EXPERIMENT», ist sie von der philosophischen-naturwissenschaftlichen Fakultät auf Antrag von Herrn Prof. Dr. J. Geiss angenommen worden, Bern, den 20. November 1986. Der Dekan: Prof. Dr. A. Ludi.

      Ob Ludi & Geiss da nicht ein bisschen voreilig, beinahe fahrlässig gehandelt haben? Aber in Bern ist ja nichts mehr wie früher, da wird sogar ein linker Hetzbruder wie Linder, der Politologe, welcher eigentlich auch schon lange hätte sein Schweizerbillet abgeben müssen, zum Professor ernannt.

      Als Briefkopf figuriert auf dem Schreiben von Martin J. ein bläulicher Pierrot lunaire, also ein Clown, der auf dem Halbmond sitzt, um dort vermutlich das INTERSTELLAR GAS EXMPERIMENT zu beobachten.

      Aus Bern kommt gleich darauf noch andere Post, direkt aus dem Ancien régime. Das ist hektographiert und also nicht persönlich gemeint, aber es ist trotzdem gut gemeint. Da steht ja auch ein Mensch dahinter, nämlich J.L. Steinacher von der «Schweizerischen Fernseh- und Radio-Vereinigung» (sog. Hofer-Club). Im Bulletin Nr. 23/86 steht u.a. geschrieben:

      Faschistoides bei Radio DRS. – Niederreissen und Verächtlichmachen des Parlamentarismus und seiner Formen – das war eine konstante, wesentliche Komponente faschistischer und national-sozialistischer Massenagitation. Mit dem Parlamentarismus habe die Demokratie eine «Spottgeburt aus Dreck und Feuer» geschaffen, schrieb Hitler schon 1924 in «Mein Kampf». (…) Den Parlamenten und ihren Handlungen gilt aber der grenzenlose Hass aller Demagogen, weil sie die direkte Umsetzung hoch geschürter Emotionen hindern. Daran (…) musste man am 10. Dezember ausgerechnet vom Jugendprogramm DRS3 erinnert werden. Es war der Tag der Bundesratswahl, und DRS3 hatte den linken Schriftsteller Niklaus Meienberg beauftragt, im Parlamentsgebäude Eindrücke zu sammeln und sie nachmittags im «Graffiti» wiederzugeben. Das Hämischste und Gehässigste war zu erwarten, und so kam es dann auch. «Eine graue und eine grauenhafte Maus» seien gewählt worden, zitierte Meienberg einen angeblichen Gesprächspartner, und das muss jedenfalls auch seine Meinung gewesen sein. (…) Es geht in Richtung des linken Faschismus.

      Faschistoid, Faschismus – die Linken verwenden die Etiketten heute nicht mehr so pauschal, wenn sie die Rechten beschimpfen wollen. Mit solchen Zaunpfählen schlagen heute die Rechten um sich, wenn ihnen etwas nicht passt. Sehr intelligent: linker Faschismus (= trockenes Wasser). Herr Steinacher würde zwar auch gerne schreiben, man solle uns den Kopf umdrehen, aber er ringt mit dem Ausdruck und sagt's verschlüsselt.

      Vielleicht ist Frau P. in Lenzburg eine Abonnentin des Bulletins des Hofer-Clubs? Muss aber nicht sein.

      Ab ins Ausland, wie gewünscht. Nach Weihnachten ein Anruf von Rose-Marie und Pat-Trick, den beiden Schlemmern, die nach Venedig gereist sind: «Hier ist die Stadt ganz von Wasseradern durchzogen und von guten Restaurants, wollt Ihr nicht auch ko…» Dann bricht die Verbindung ab, und wir kommen. Aber können wir Thomas Wagner so allein und ohne Aufsicht in Zürich zurücklassen? Der macht in der Zwischenzeit sicher wieder einen Patzer. Bei der Verleihung des Grossen Literaturpreises an Federspiel hat er zum Beispiel gesagt, in Federspiels Schaffen sei «kaum Zürcherisches zu finden, Zürich sei vielleicht zu klein oder zu schwach ausgebildet, um als Sujet Federspiel zu genügen», und er kennt also offensichtlich Jürgs ausgedehnte, starke Reportage, in welcher die Biographien von Fritz Zorn, dem Sprayer und dem Telefonzentralen-Sprengfachmann Hürlimann miteinander verschränkt sind, nicht; und trotzdem hat er die Frechheit, Federspiel zu gratulieren. Er kennt übrigens auch die typhoide Mary nicht und hat überhaupt, wie sich im Gespräch mit ihm herausstellt, noch nie etwas von Federspiel gelesen. Macht aber nichts, er gratuliert trotzdem. Er muss ja pro Woche mindestens sechsmal gratulieren: dem Gärtnermeister-Verband, den kantonalen Fischzüchtern, dem Dachverband einheimischer Organisten, der Libellen-Gewerkschaft und den Hündelern (kynologischer Verein). Warum also nicht auch Federspiel? Die Zeremonie der Preisverleihung war denn auch entsprechend festlich und ungemein läbtig. Zuerst spricht der Sargschreiner (Wagner), dann der Friedhofsgärtner (Egon Wilhelmini), dann der Krematoriumsbeamte (Anton Krätzli).

      Ja, das passt ins Schauspielhaus, so gut wie ein Stück von Engelmann. Es passt aber nicht zu Federspiel. Und soll man also wirklich dieser Plüsch- und Schnapsbourgeoisie unsern Schriftsteller ganz überlassen? Er hat das nicht verdient. Also muss der Auferstehungsbeamte noch eine improvisierte, auf dem Programm nicht vorgesehene Rede halten. Auch dem Unseld kann man ihn nicht ausliefern. Unseld hat die Stirn, aus Anlass der Preisverleihung ein Suhrkamp-Federspiel-Inserat erscheinen zu lassen, in welchem eine zwanzig Jahre alte Rezension zitiert wird: «… man mag sich getrost dem neuen Buch des begabten Schweizer Schriftstellers Jürg Federspiel anvertrauen.» Begabt! Das hat ihn gefreut, dass er jetzt endlich als begabt gehandelt wird. Hätte man nicht etwas Neueres bringen können, z.B. Robert Wilson aus «USA Today», welcher geschrieben hat: «An existential Dickens: Thats J.F. Federspiel», oder «Our disquiet mounts imperceptibly; something is winching us higher and higher. This is a chilly work, but it is a chill we catch.» War wohl zu teuer, neue Rezensionen zu sammeln.

      Der alte Unseld ist nicht da, der Anlass war ihm vielleicht zu wenig wichtig, also ist der junge gekommen, welcher die Firma aber auch ganz vorteilhaft vertritt. Der ist hübsch und tipptopp gedresst und wird den Laden bald einmal erben, so wie der Sohn von Kim il Sung dereinst Nordkorea erben wird. Zu Federspiel hat er eine Beziehung wie die Katzen zum Schwimmen. Frau Denise, Wagners Gemahlin, ist auch gekommen und geht furibund auf mich los, auch sie hat noch kein Wort von Federspiel gelesen, scheint mit meiner Stegreif-Rede nicht zufrieden gewesen zu sein und sagt, sie hoffe, dass ich jetzt nicht auch noch ins Muraltengut zum Essen komme, nachdem ich mich im Schauspielhaus so schlecht aufgeführt habe, aber ich komme doch, Denise, Jürg hat mich nämlich eingeladen. Und Wagner sagt, mit einem Cocktailglas in der Hand: «Sie, was Sie im Schauspielhaus gemacht haben, ist eine Frage des Karakters, für mich sind Sie eine non-valeur», worauf man wohl auch auf französisch etwas erwidern darf: der Ausdruck «nullité» ist angebracht, und damit wird Thomas Wagner bezeichnet.

      Worauf sich das Cocktailglas entfernt. Das Muraltengut ist übrigens ein schöner Rahmen für solche Feiern, und nachdem Wagners dann um Mitternacht verschwunden waren, uf widerseh, ich mues zu mine Chinde, sagte Denise, schien es uns zu gehören. Am Boden im ersten Stock liegt ein Teppich, den der Monarch Haile Selassie der Stadt Zürich geschenkt hat. Man kann dort die Monarchie mit Füssen treten, und Zigarren gab es auch und viele Schnäpse. Fedi blühte auf.

      Lieber Nikl. Meienberg. Oft schreibe ich Briefe an Menschen, die es gar nicht gibt, oder die es nicht mehr gibt, die es vielleicht eines Tages gibt, die es gerade jetzt gibt. Es ist gleich, ob die Briefe gelesen werden. Meistens habe ich keinen Grund zum

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