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gestellt oder des Landes verwiesen.

      Während die Katholiken an dieser frauenfeindlichen Praxis festhielten, verschärften die Protestanten im 18. Jahrhundert die Ehebruchsregelung für Männer. Nach dem Recht des evangelischen Landesteiles konnten sich auch Männer des Ehebruchs schuldig machen. Männer, die bei Seitensprüngen ertappt wurden, mussten mit harten Geldstrafen rechnen und den Degen, das Ehrenzeichen an der Landsge­meinde, abgeben.

      Im Mai 1773 wurde diese Bestimmung sogar noch weiter verschärft. Bedrohlich wirkte sich für den protestantischen Doktor Tschudi ein Beschluss der Landsgemeinde aus, der für Amtsträger eine spezielle Ehebruchsklausel einführte. Seither mussten Ratsmitglieder, die fremdgingen, von allen Ämtern zurücktreten und sie waren generell im Land nicht mehr wählbar.

      Für Doktor Tschudi wäre das eine Schmach gewesen. Wäre er des Ehebruchs oder gar der ausserehelichen Zeugung eines Kindes überführt worden, hätte er seine politischen und rich­terlichen Ämter für immer niederlegen müssen – das abrupte Ende seiner politischen Karriere.

      Anna Göldi brachte mit ihrer Intervention nicht nur sich selbst und Doktor Tschudi in Bedrängnis, sondern versetzte auch Landammann Tschudi und Pfarrer Tschudi in Aufruhr. Denn die beiden trugen nicht nur den gleichen Nachnamen wie der Arzt, alle drei Männer waren auch sehr eng mitein­ander verbunden.

      Der Pfarrer war mit der Familie von Doktor Tschudi verwandt und ihr intimer Vertrauter. Beide hatten den gleichen Urgrossvater, waren also entfernte Cousins. Zudem war der Gottesmann Onkel von Doktor Tschudis Ehefrau, der Bruder ihrer Mutter. Mit der Arztfamilie unterhielt er eine intensive Freundschaft. Er war Pate und geistiger Ziehvater von Doktor Tschudi, hatte ihn seinerzeit getauft und ihn in Griechisch und Latein unterrichtet. Später wurde er auch «Götti» von Susanna, der ältesten Tochter der Arztfamilie.

      Weiterer Berührungspunkt: Doktor Tschudi war als Mitglied des Chorgerichtes auch ein Richterkollege von Landam­mann Tschudi und Pfarrer Tschudi. Nun sollten ausge­rech­net diese beiden in einem delikaten Fall gegen ihn ermitteln.

      Die Frage, was die Magd aus Sennwald dazu bewogen hat­te, an die obersten Sittenwächter des Landes Glarus zu gelangen, gehört zu den grossen Mysterien des Anna-Göldi-Falles. Warum informierte sie den Landammann und den Pfarrherrn über angebliche Verfehlungen von Doktor Tschudi? Hätte sie nicht damit rechnen müssen, dass sich ihre ­Beschwerde als Bumerang erweisen würde?

      Offenbar musste aus Sicht von Anna Göldi etwas Gravierendes vorliegen. Trieb sie Wut, pure Verzweiflung an oder der verletzte Stolz einer Frau, die erniedrigt, missbraucht und vielleicht sogar vergewaltigt worden war?

      Der Prozessverlauf wirft eine weitere Frage auf: Warum waren nicht nur Anna Göldi und Doktor Tschudi ein Thema, sondern auch das Kind Annamiggeli? War Annamiggeli Op­fer von Übergriffen geworden? Letzteres zu bejahen, wäre reine Spekulation und geht aus den Akten keinesfalls hervor. Und Doktor Tschudi bestritt stets jeglichen «fleischlichen Umgang» und bezeichnete Göldis Vorwürfe als «teuflische Anspinnungen».

      Vermutlich wollte Anna Göldi gar kein förmliches Verfah­ren gegen ihren Dienstherrn, sondern suchte nur vertrauensvoll die Hilfe der beiden Amtsträger. Doch als sie am 26. Oktober 1781 ihr Leid klagte, handelten beide entsetzt und pa­­­nisch. Für den Landammann und den Pfarrer stand nicht nur die Ehre von Doktor Tschudi, sondern auch jene der ­ganzen Aristokratenfamilie und des Landes Glarus auf dem Spiel.

      Während Anna Göldi, des Landes verwiesen, auf der Flucht war, verstummten die Gerüchte nicht, wonach die Magd von Tschudi schwanger geworden sei. Darum nahm im Land Glarus der öffentliche Druck auf den Arzt und Politiker von Woche zu Woche zu.

      Lange hatte Doktor Tschudi geschwiegen, doch dann ging er in die Offensive und legte sein gesamtes politisches und gesellschaftliches Gewicht in die Waagschale. Am 9. Dezember 1781 bestritt er vor dem evangelischen Rat, die Magd geschwängert zu haben. Zugleich kündigte er an, alle Prozesskosten zu übernehmen und von allen Ämtern zurückzutreten, sollten sich die Vorwürfe gegen ihn bewahrheiten. Die Rettung seiner Ehre gehe ihm «über alles», sagte Tschudi.

       Kapitel 5 – Die glarnerische Familien­herrschaft: Herren und Untertanen

      Die 13 alten Orte der Eidgenossenschaft waren Oli­garchien, in denen ein paar wenige einflussreiche und vermögende Familien regierten. Normalsterbliche Menschen hatten keine Freiheitsrechte, keine Religions- und keine Gewissensfreiheit. Sie durften ihre Meinung nicht frei äussern, geschweige denn Kritik üben.

      Dieses oligarchische Herrschaftssystem praktizierten auch «Landsgemeinde-Demokratien» wie das Land Glarus, das seit 1683 konfessionell gespalten war. Auf evangelischer wie katholischer Seite teilten sich je nur etwa zehn Bürgerfamilien die Macht unter sich auf. Die bekanntesten protestantischen Familien hiessen Heer, Blumer, Tschudi und Zwicky. Die Zwickys besetzten im 18. Jahrhundert die meisten wichtigen Landesämter und wurden zur mächtigsten Familie.

      Diese Familien trafen die wichtigsten Entscheidungen in Justiz und Politik. Gewaltenteilung gab es nicht: Mitglie­der des Rates waren in der Rechtsprechung tätig, Richter nahmen auch Regierungsgeschäfte wahr. Der Landammann und obers­te Regierungsvertreter war zugleich höchster Richter und Vorsitzender in den meisten Gerichten.

      Wer ein Amt übernahm, behielt es gewöhnlich ein Leben lang und war niemandem ausser Gott Rechenschaft schuldig. Besonders deutlich brachte der Diakon von Schwanden dieses Gottesgnadentum zum Ausdruck, als er in seiner Landsge­mein­depredigt von 1780 die göttliche Ordnung erklärte. Diese unterscheide zwei Klassen von Menschen: die mächtigen «Oberen» und die zu Gehorsam verpflichteten Unterta­nen.

      Wie kaum ein anderer verkörperte dieses ständestaatliche Machtverständnis Gottesmann Tschudi, damals der bedeu­tendste evangelische Geistliche im Land Glarus. Als Pfarrer des Hauptortes hatte er eine traditionell starke Stellung. Seit Ulrich Zwingli (1484–1531), der noch vor der Reformation Glarner Pfarrer war zwischen 1506 und 1516, hatte kein anderer Priester das kulturelle und politische Leben des Landes Glarus so geprägt wie der begnadete Kanzelredner und charis­matische Tschudi. Im Jahr des Göldi-Prozesses stieg er zum Camerarius auf, zum obersten Geschäftsführer der evangelischen Landeskirche.

      Sein grosses Vorbild war Aegidius, genannt Gilg, Tschudi (1505–1572), der mächtige Übervater der Tschudi-Familie, der als Geschichtsforscher, Wissenschaftler und Politiker zu den bedeutendsten Figuren der Alten Eidgenossenschaft gehörte. Er war Glarner Landammann und eidgenössischer Landvogt in den Gemeinen Herrschaften Sargans und Baden. Zudem unternahm er für die damalige Zeit weite Reisen über die Alpenpässe, besuchte antike Städte wie etwa Florenz oder Rom und entwarf eine für ihre Genauigkeit gerühmte Lan­des­­­karte der Alten Eidgenossenschaft. Seine grösste wissenschaftliche Leistung vollbrachte er als Verfasser des Chronikon Helvetikum, in dem er den heldenhaften Freiheitskampf der Alten Eidgenossen gegen die Habsburger schilderte, angefangen bei der Legende von Wilhelm Tell, über den Rütlischwur bis hin zu den siegreichen Schlachten von Morgarten, Sempach und Näfels. Auch wenn Tschudi die historischen Fakten frei interpretierte und mit Anekdoten und Sagen ausschmückte, ist das «Chronikon» bis heute das bedeutends­te Werk über die Geschichte der Alten Eidgenossenschaft geblieben. Tschudi begründete damit seinen Ruf als «Vater der Schweizer Geschichte» und legte den Grundstein für den Mythos einer starken und unabhängigen helvetischen Nation.

      Zweihundert Jahre später führte der Glarner Pfarrherr Camerarius Tschudi, nebenbei ein leidenschaftlicher Geschichts- und Familienforscher, das Erbe des berühmten Übervaters weiter. In zwanzig Bänden beschrieb er die Geschichte des von Gott auserwählten «uralten adelichen Geschlechts». Sei­ne Mission: die Erinnerung an die grosse Lichtgestalt Aegidius Tschudi auferstehen lassen und der Tschudi-Dynastie neuen Glanz und Ruhm verleihen.

      Camerarius Johann Jakob Tschudi (1722‒1784). Landesarchiv des ­Kantons Glarus, Glarus.

      Doch die Zeit der Familienherrschaft ging ihrem Ende entgegen. Im 18. Jahrhundert bahnten sich als Folge der Aufklä­rung in ganz Europa tiefgreifende Veränderungen an. Denker wie Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Voltaire (1694 bis 1778)

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