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reichte ihm die Uhr, nicht ohne ein Gefühl innerer Belustigung, denn diese Aufgabe war, wie ich glaubte, unlösbar, und ich wollte ihm wegen des rechthaberischen Tons, den er zuweilen anschlug, eine kleine Lehre erteilen. Er wog die Uhr in der Hand, musterte eingehend das Zifferblatt, dann öffnete er das Gehäuse und untersuchte das Uhrwerk, erst mit bloßem Auge, dann mit einem starken Vergrößerungsglas. Als er die Uhr endlich wieder zuschnappen ließ und sie mir mit enttäuschtem Gesichtsausdruck zurückgab, konnte ich mich eines Lächelns kaum erwehren.

      »Es gibt nur sehr wenige deutliche Fakten«, sagte er. »Die Uhr ist vor kurzem gereinigt worden, das beraubt mich der wichtigsten Anhaltspunkte.«

      »Richtig«, sagte ich. »Sie ist gereinigt worden, bevor man sie mir übersandt hat.«

      Insgeheim machte ich meinem Gefährten den Vorwurf, sein Nichtwissen mit einer höchst lahmen und schwachen Ausrede zu bemänteln. Welche Anhaltspunkte erwartete er denn von einer Uhr, die nicht gereinigt worden war?

      »Obgleich wenig befriedigend, war meine Untersuchung doch nicht gänzlich fruchtlos«, fuhr er fort, während er mit verschleierten Augen träumerisch zur Decke blickte. »Ihre Richtigstellung vorbehalten, würde ich sagen, dass die Uhr Ihrem älteren Bruder gehört hat, der sie von Ihrem Vater geerbt hat.«

      »Das schließen Sie zweifellos aus dem H. W. auf der Rückseite?«

      »Genau. Das W. deutet auf Ihren eigenen Namen hin. Das Datum auf der Uhr reicht beinahe fünfzig Jahre zurück, und das Monogramm stammt aus der gleichen Zeit wie die Uhr. Sie ist also für die vorige Generation angefertigt worden. Nun ist es üblich, dass Wertgegenstände an den ältesten Sohn vererbt werden, und der trägt mit großer Wahrscheinlichkeit den Vornamen des Vaters. Ihr Vater ist, soviel ich weiß, seit vielen Jahren tot. Die Uhr muss demnach aus dem Besitz Ihres ältesten Bruders stammen.«

      »Das ist soweit richtig«, sagte ich. »Können Sie sonst noch etwas sagen?«

      »Er war nachlässig in seinen Gewohnheiten – sehr nachlässig und liederlich. Als Erbe hatte er gute finanzielle Aussichten, aber er vergab alle Chancen, lebte längere Zeit in Armut, unterbrochen von kurzen Intervallen von Wohlstand, verfiel schließlich dem Trunk und starb. Das ist alles, was ich folgern kann.«

      Ich sprang vom Sessel auf und humpelte erregt im Zimmer umher, mit einem bitteren Gefühl im Herzen.

      »Das ist Ihrer unwürdig, Holmes!« rief ich. »Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie so tief sinken können. Sie haben Erkundigungen eingezogen über das Leben meines unglücklichen Bruders, und jetzt geben Sie vor, Ihr Wissen auf phantastische Art zu deduzieren. Sie können mir unmöglich zumuten zu glauben, Sie hätten das alles von der alten Uhr abgelesen! Das ist herzlos, und offen gesagt, es grenzt an Scharlatanerie.«

      »Mein lieber Doktor«, erwiderte er freundlich, »ich bitte Sie aufrichtig um Verzeihung. Ich hatte die Sache als abstraktes Problem betrachtet und dabei vergessen, das es für Sie persönlich schmerzlich sein muss. Aber ich versichere Ihnen: Bevor Sie mir die Uhr gezeigt haben, wusste ich nicht einmal, dass Sie überhaupt einen Bruder hatten.«

      »Aber wie in aller Welt haben Sie dann all diese Dinge herausbekommen? Es stimmt alles ganz haargenau – in allen Einzelheiten!«

      »Oh, da hatte ich Glück. Ich konnte nur durch Abwägung der Wahrscheinlichkeiten zu einem Ergebnis kommen. Ich hatte nicht erwartet, es so genau zu treffen.«

      »Aber Sie haben nicht einfach nur geraten?«

      »Nein! Ich rate niemals. Raten ist eine abscheuliche Angewohnheit – es schadet dem logischen Denken. Die Sache erscheint Ihnen nur deshalb so rätselhaft, weil Sie weder meinem Gedankengang folgen noch jene kleinen Details wahrnehmen, die zu wichtigen Schlussfolgerungen führen können. Beispielsweise habe ich mit der Feststellung begonnen, dass Ihr Bruder nachlässig war. Wenn Sie den unteren Teil des Uhrgehäuses betrachten, werden Sie bemerken, dass es nicht nur an zwei Stellen eingebeult ist, sondern überall Kratzer und Schrammen aufweist – eine Folge der Gewohnheit, die Uhr zusammen mit anderen harten Gegenständen wie Münzen oder Schlüsseln in der Tasche zu tragen. Es ist sicherlich keine Meisterleistung zu folgern, dass ein Mann, der so achtlos mit einer Fünfzig-Guineen-Uhr umgeht, ein nachlässiger Mensch sein muss. Ebenso ist die Schlussfolgerung nicht weit hergeholt, dass jemand, der einen so wertvollen Gegenstand erbt, auch anderweitig gut versorgt sein dürfte.«

      Ich nickte zustimmend, um zu zeigen, dass ich seiner Argumentation folgte.

      »Nun pflegen Pfandleiher in England bei versetzten Uhren die Nummer des Pfandscheines mit einer feinen Nadel in die Innenseite des Gehäuses zu ritzen«, fuhr Holmes fort. »Das ist praktischer als ein Etikett, denn so kann die Nummer nicht verloren gehen oder verwechselt werden. Mit meiner Lupe konnte ich im Innern des Uhrgehäuses nicht weniger als vier solcher Nummern erkennen. Daraus folgt: Ihr Bruder steckte des Öfteren in einer finanziellen Klemme. Zweite Schlussfolgerung: Er kam zeitweise wieder zu Wohlstand, sonst hätte er das Pfand nicht wieder einlösen können. Betrachten Sie schließlich noch den Uhrdeckel mit dem kleinen Schlüsselloch. Sehen Sie die tausend winzigen Schrammen rund um das Schlüsselloch, wo der Schlüssel immer wieder abgerutscht ist? Kein nüchterner Mensch würde solche Kratzer hinterlassen. Aber auf der Uhr eines Trinkers findet man sie regelmäßig. Er zieht sie nachts auf und hinterlässt diese Spuren seiner unsicheren Hand. Was ist an alledem so rätselhaft?«

      »Es ist klar wie der helle Tag«, antwortete ich. »Verzeihen Sie, dass ich Sie zu Unrecht so angefahren habe. Ich hätte mehr Vertrauen in Ihre fabelhaften Fähigkeiten setzen sollen. Darf ich fragen, ob Sie gegenwärtig mit der Untersuchung eines Falles befasst sind?«

      »Leider nicht. Daher das Kokain. Ich kann nicht leben ohne geistige Anstrengung. Wofür soll man sonst leben? Kommen Sie einmal hierher ans Fenster. Gab es jemals etwas Trübseligeres, Schaleres, Sinnloseres als diese Welt? Sehen Sie nur, wie die gelben Nebelwolken durch die Straße treiben und an den fahlbraunen Häusern vorüber ziehen. Was könnte hoffnungsloser prosaisch und materialistisch sein? Was nützt es denn, Doktor, Talent zu haben, wenn man es nicht anwenden kann? Verbrechen ist banal, das Dasein ist banal, und nur banale Fähigkeiten gelten etwas in dieser Welt.«

      Ich wollte gerade meinen Mund zu einer Entgegnung auf seine Tirade öffnen, als ein kurzes Klopfen an der Tür ertönte und unsere Hauswirtin eintrat, ein Messingtablett mit einer Visitenkarte in der Hand.

      »Eine junge Dame wünscht Sie zu sprechen, Sir«, sagte sie zu meinem Gefährten.

      »Miss Mary Morstan«, las er laut. »Hm – der Name sagt mir nichts. Bitten Sie die junge Dame herauf, Mrs Hudson. Gehen Sie nicht, Doktor. Es wäre mir lieb, wenn Sie hier blieben.«

      2. KAPITEL

       Die Darlegung des Falles

      Miss Morstan betrat unser Wohnzimmer mit festem Schritt und in äußerlich ruhiger Haltung. Sie war jung, blond, klein und zierlich, trug tadellose Handschuhe und war sehr geschmackvoll gekleidet. Die Schlichtheit ihres an-spruchslosen Kostüms ließ allerdings auf beschränkte Mittel schließen. Ihr Kleid war von einer stumpfen grau-beigen Farbe, ohne Spitzen oder Besatz, dazu trug sie einen kleinen Turbanhut im gleichen tristen Farbton, der nur durch die Andeutung einer weißen Feder an der Seite ein wenig aufgehellt wurde. Sie besaß weder besonders regelmäßige Gesichtszüge noch einen auffallend schönen Teint, aber ihr Gesichtsausdruck war lieblich und anziehend, und aus ihren großen blauen Augen sprach ein ungewöhnlich reiches Seelenleben voller Wärme und Mitgefühl. Ich bin auf drei Kontinenten Frauen verschiedener Nationen begegnet, aber niemals hatte ich ein Gesicht gesehen, in dem sich so deutlich eine edle, feinfühlige Natur ausprägte. Doch als sie auf dem Stuhl Platz nahm, den Holmes ihr anbot, konnte es meiner Aufmerksamkeit nicht entgehen, dass ihre Lippen zitterten und ihre Hand bebte, und dass sie alle Anzeichen heftiger innerer Erregung aufwies.

      »Ich bin zu Ihnen gekommen, Mr Holmes«, sagte sie, »weil Sie der Dame, bei der ich in Diensten stehe, Mrs Cecil Forrester, vor einiger Zeit bei der Aufklärung einer kleinen häuslichen Verwicklung behilflich gewesen sind. Sie war tief beeindruckt von Ihrer Freundlichkeit und von Ihren

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