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zu sehen und zu deuten. Für Gebser ist die Veränderung des Verhältnisses zur Zeit, die sich mit der einsetzenden Renaissance vollzog, der entscheidende Angelpunkt für die Probleme und Leiden der Neuzeit. Dieses veränderte Zeitbewusstsein wird durch die Entdeckung der Perspektive ausgedrückt; sie löst das unperspektivische, mythische Zeitalter ab und leitet die Epoche der perspektivisch-fortschrittlichen Wissenschaft ein. «Dadurch verliert der mehr und mehr diesseitsbezogene Mensch an Weltvertrauen und begibt sich in die individuelle Isolation. Gebsers Werk ist ein geistesund kulturkritischer Dialog mit der Welt, in der wir leben mit ihren Traditionen, Erwartungen und Verstiegenheiten. Die Fülle der Ausblicke und Belege prägt ihm überdies den Stempel eines erstrangigen Kompendiums europäischen Denkens auf.»

      Diese Einführung aus der Neuauflage 2015 spricht vom 20. Jahrhundert als Bezugsrahmen. Ich möchte das etwas weiträumiger definieren: Viele der gefundenen oder antizipierten Beschriebe sind auch stupende Voraussagen dessen, was sich im 21. Jahrhundert abspielt.

      Gebser selbst schrieb 1973: «Das neue Bewusstsein des Menschen, für welches die junge Generation besonders hellhörig ist, und welches von der Veränderung des menschlichen Verhältnisses zur Zeit ausgeht, ist das Generalthema meiner Arbeit.» Diese «junge Generation» ist mittlerweile im Pensionsalter …

      Wer Neues beschreibt, neue Tendenzen entwickelt oder bahnbrechende Innovationen kommentiert, muss dafür notgedrungen neue Wörter «erfinden» oder bestehende in einen neuen Zusammenhang stellen. Aperspektivisch ist ein solches. «In der perspektivischen Weltvorstellung wurde alles mit räumlichen Massen gemessen. Für den perspektivisch denkenden Menschen hat die Zeit keinen Qualitätscharakter.» Diese mentale Struktur (der Vergangenheit) hat die Zeit zu einer analytischen Massbeziehung pervertiert, sie materialisiert und das extrem dualistische Denken heraufbeschworen, das in der Welt nur zwei gegensätzliche und unversöhnliche Komponenten anerkannte, befand Gebser.

      Und er ergänzte sogleich: «Wer der aperspektivischen Welt den Vorwurf macht – und dies wird ausgiebig geschehen –, dass sie unvorstellbar, unbegreiflich, unfasslich, unbeweisbar und nicht räumlichend zu Denkendes sei, der scheitert nur an der Begrenztheit der eigenen, an das Erfassen und das Sehen gefesselten Weltvorstellung.»

      Die Bewusstwerdung der Zeitfreiheit ist eine weitere, wichtige Begriffsauslegung Gebsers. «Der Einbruch der Zeit in unser Bewusstsein, dieses Ereignis ist das grosse und einzigartige Thema unserer Weltstunde. Ein neuer Ton, eine neue Form, eine neue Sicht wird dann dort wahrnehmbar werden, wo wir heute nur Schrei und Dissonanz zu hören glauben. […] Unsere Aufgabe ist es, die Zeit aus ihrer rationalen Vergewaltigung zu befreien. Diese Problemstellung klingt einfach, die Aufgabe aber ist von kaum vorstellbarer Schwierigkeit. Es ist von grundlegender Wichtigkeit, genauestens zwischen irrational und arational zu unterscheiden.»

      Während wir mit dem Begriff «irrational» (mit dem Verstand nicht fassbar, dem logischen Denken nicht zugänglich) als Gegensatz zu «rational» (vernünftig, aus der Vernunft stammend, von der Vernunft bestimmt) bestens vertraut sind, ist «arational» im Duden bis heute nicht erwähnt. Wer sich allerdings die Mühe nimmt, den Begriff zu googlen, erhält 11 700 000 Ereignisse. Somit benutzt Gebser dieses Wort, das im englisch-amerikanischen Alltag längst populär ist, um uns zu sagen: Nicht alles, was nicht rational ist, muss irrational sein. Mit arational ist gemeint: nicht kausal gerichtet, auch nicht polar entgegengesetzt, sondern akausal (ohne ursächlichen Zusammenhang), ganzheitlich wahrend.

      Dieser aperspektivischen Welt (der Zukunft) ordnet Gebser also die integrale Struktur zu im Unterschied zur mentalen Struktur (der Vergangenheit). Nun ist integral natürlich keine neue Wortschöpfung. Doch im Zusammenhang seiner Weltsicht oder Philosophie ist der Begriff vergleichbar mit dem Modell einer holistischen Welterklärung, einer Ganzheitslehre also, basierend auf der Vorstellung, dass gesellschaftliche, wirtschaftliche, physikalische, politische, geistige Systeme etc. und ihre Eigenschaften als Ganzes und nicht als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten sind.

      Und schliesslich: diaphan, das Diaphane, Gebsers Methode des Durchsichtigmachens (in Ergänzung zum Messen), die Erscheinungsform des Geistigen. «Es handelt sich um ein Durchsichtigmachen des in der Welt und hinter und vor ihr Verborgenen», um ein Durchsichtigmachen unseres Ursprungs, unserer ganzen menschlichen Vergangenheit und der Gegenwart, die auch die Zukunft schon enthält, präzisiert Gebser. Ich verwende dafür die Begriffe transparent oder Transparenz.

      Nun ordnet Gebser schliesslich der aperspektivischen Zeit die Vierdimensionalität als Gegebenheit zu. In diesem Zusammenhang vielleicht überraschend, aber logisch. «Als Realität, als Weltkonstituante brach die Zeit eigentlich erst mit der Formulierung des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums durch Einstein, also zu Beginn unseres Jahrhunderts [20. Jahrhundert], in unser Bewusstsein ein.»

      Ein weiteres hervorstechendes Merkmal der ausgehenden perspektivischen, mentalen Epoche ist für Gebser die Zeitangst. Zeit gewinnen, keine Zeit haben – unser Alltagsvokabular.

      Zusammenfassend denkt Gebser, Raum haben wir zwar, aber keine Zeit, obwohl die Welt weiter wurde, wurde sie enger (nämlich scheuklappenmässig verengt). «Diese Situation brachte mit den Jahrhunderten, in denen sie sich allmählich herausbildete, jenes Stigma unserer Zeitepoche mit sich, das ausser den aufgezählten das verderblichste ist: die heute allgemein herrschende Intoleranz und der aus ihr resultierende Fanatismus.» Für das Bemühen um die Zeit, das Realisieren der qualitativen Werte dieser Auseinandersetzung hat Gebser das Wort Temporik kreiert.

      «Mutationen sind immer dann aufgetreten, wenn die herrschende Bewusstseinsstruktur zur Weltbewältigung nicht mehr ausreichte. So war es auch bei der letzten historisch überblickbaren Mutation, jener, die um 500 v. Chr. aus dem Mythischen ins Mentale führte.» An der Bruchstelle zu einer erneuten Mutation in unserer Gegenwart, so Gebser, werden die Merkmale der defizienten, zu überwindenden respektive integrierenden «Fehlentwicklungen» der mentalen Struktur sichtbar.

      «Das Verhaftetsein an den Nationalismus. Das nationalistische Denken ist ein Prototyp des dreidimensionalen Denkens. Der Mensch als Kind einer Nation fasst nämlich Art und Wesen der eigenen Nation als ideale Konstante auf; das aber ist statisches Konzept und damit eine dreidimensionale, perspektivische, fixierte Vorstellung.» Dies ist eine der brandaktuellen Formulierungen, die auch 60 Jahre nach Niederschrift ihre Brisanz nicht verloren haben.

      Bei jeder Mutation (nach archaischer, magischer, mythischer, mentaler und integraler Struktur unterschieden) hatte sich der Mensch nach Gebser neuen Aufgaben zuzuwenden. «Er hatte dies zu tun, weil blosses Beharren zum Verfall führt. Aber seiner Natur gemäss verharrte er zuerst einmal, um sich gewissermassen des erworbenen Besitzes und Vermögens zu erfreuen. Damit setzt die Defizienz, der Verfall ein. Wer verharrt, verfällt.»

      «Schliesslich überbietet sich die Technik darin, mit jedem neuen Jahre den Raum immer mehr durch die Meisterung der Zeit zusammenschrumpfen zu lassen, indem sie grosse Entfernungen, sei es zeitlich durch Überschallflugzeuge zusammenrückt, sei es diese Entfernungen sogar auf einen angenäherten zeitlichen Nullpunkt reduziert […].» Diese Konklusion Gebsers scheint mir geradezu visionär: Globalisierung und Gleichzeitigkeit, die beiden Hauptcharakteristika des digitalen Zeitalters zu Beginn des 21. Jahrhunderts, kein Mensch ahnte diese Umbrüche, Gebser formulierte in seinen Worten, was die weltweiten «Fortschritts-Treiber» ausmachen würden. Sozusagen sein Gedankengebäude.

      Im Kontext meines Buches interessiert auch, was Gebser zur Malerei zu sagen hat, nachdem er sich ausführlich zur Architektur geäussert hat (die Transparenz der modernen Gebäude, wo Glas inzwischen grosse Teile der früheren, trennenden Wände ersetzt hat – diese Ankündigung Gebsers um die Mitte des letzten Jahrhunderts ist ebenso stupend wie 60 Jahre später weltweite Normalität). Das Hauptaugenmerk Gebsers richtet sich nun zweifellos auf jenen Künstler, der alle überraschte und herausforderte: Pablo Picasso.

      Bei diesem Künstler «wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher, dass es gar

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