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Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann
Читать онлайн.Название Im Takt des Geldes
Год выпуска 0
isbn 9783037600283
Автор произведения Eske Bockelmann
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Und zwar nicht denken, weil nicht anders empfinden. So groß ist die Kraft unserer, der jeweils eigenen Rhythmuswahrnehmung, dass sie den Gedanken an eine andere nicht bloß ausschließt oder gar nicht erst aufkommen lässt, sondern ihn selbst dort, wo er einmal explizit und wissenschaftlich aufkommt, gewaltsam von seinem Ziel ablenkt und absurd verdreht. Derselbe Apel, der sich bei Rhythmus nichts als den Takt denken kann, weiß ja zur selben Zeit, dass Sophokles seine Verse anders, nicht so gedichtet hat, wie es jenem hochverehrten einen »Wesen des Rhythmus« entspricht. Und trotzdem, gegen dieses bessere Wissen, unternimmt Apel unbeirrt den haltlosen Beweis, die Verse des Sophokles müssten genau demjenigen »Wesen von Rhythmus«, dem sie zuverlässig nicht entsprachen, entsprechen.
Ein klassischer Irrweg
Bezwingend sind hier Wahrnehmung und Reflexion also ineinander verschränkt: die unwillkürliche Wahrnehmung von Rhythmus und das ebenso unwillkürlich täuschende Denken über ihn. Der Zwang der je eigenen Rhythmuswahrnehmung zeigt sich wirksam zum einen als Schranke: Weil wir Rhythmus zwingend nach Takten wahrnehmen, können wir uns Rhythmus nicht anders als nach Takten denken. Zugleich aber ist der Zwang wirksam als Übergriff: Wenn wir Rhythmus zwingend nach Takten denken, legen wir unser Taktwesen unwillkürlich auch auf Bereiche, die einer anderen Art von Rhythmus zugehörten; wir hören und denken auch solche Rhythmen danach, die zu ihrer Zeit nichts mit Takten zu tun hatten. Das heißt, wir täuschen uns und fälschen sie.
Das will ich nur ein wenig ausführlicher dokumentieren; denn für alles Folgende liegt sehr viel daran, die Mächtigkeit dieser Täuschung zu erkennen. Wie Canettis Ursprungsmythos ist auch Apels Lehre nur ein Beispiel unter unzähligen, und Apel nicht etwa ein einzeln verloren Irrender, sondern der ganz normale, vollgültige Vertreter einer Wissenschaft, die hier über mehrere Jahrhunderte hinweg nichts anderes hat wissen wollen.
Wie die antiken Verse zu ihrer Zeit gelesen wurden, ist genau überliefert: nach ihrem Rhythmus der zeitlichen Proportionen, nach lang und kurz. Wie aber müssten sie nach dem, was Apel und neben anderen die gesamte Wissenschaft der klassischen Philologie sich anheischig gemacht haben zu beweisen, ein für allemal gelesen werden? Wie in der Neuzeit: indem der alte Rhythmus durch den neuzeitlichen ersetzt wird. Die Abfolge von lang und kurz etwa des antiken iambischen Trimeter empfindet unser neuzeitliches Ohr nicht mehr als rhythmisch; als rhythmisch empfindet es die taktgemäße Abfolge von betont und unbetont. Wie also werden unserem neuzeitlichen Ohr die antiken Verse rhythmisch? Indem wir deren Rhythmus missachten und unseren Rhythmus hineinlegen. Das heißt: indem wir die Grundlage des originalen, des antiken Rhythmus, nämlich die Länge und Kürze der Silben für gleichgültig nehmen und stattdessen das wechselnde betont/unbetont auf die Silben schlagen. Ein Verfahren ist das, als würde sich nun wirklich Canettis bürgerlicher Urmensch aufmachen und mit dem rhythmischen Geräusch seiner Absätze über diese Verse hinwegtrampeln, gleichgültig gegen die Unebenheiten ihres geschmeidigen Bodens, mit seinen Hufen »eine Art von rhythmischer Notenschrift« hineinhämmernd, die es bei Gott nicht immer gab und die sich keineswegs »von selber« diesem »weichen Boden« einprägt, sondern die »der Mensch, der sie las«, nein, der sie neuzeitlich liest, durchaus mit einigem Nachdruck und mit einiger Gewalt erst von sich aus hineinzuzwingen hat: seinem rhythmischen Zwang gehorchend.
Die einzige Freiheit, die ihm der Taktrhythmus dabei lässt, ist die: ob eines oder ob zwei unbetonte Elemente zwischen die betonten treten; auf diese Freiheit werde ich noch zu sprechen kommen. Wenn also ein antiker Vers so lautete:
Parturient montes, nascetur ridiculus mus,
so ist sein originaler Rhythmus nach lang und kurz:
│ — ∪ ∪ │ — — │ — — │ — — │ — ∪ ∪ │ — — │
und die Wortakzente, die ja rhythmisch indifferent waren, verteilen sich so auf die Silben:
Par.tú.ri.ent món.tes, nas.cé.tur ri.dí.cu.lus mús.
Wir aber, neuzeitlich und taktrhythmisch, machen daraus:
PAR.tu.ri.ENT mon.TES, nas.CE.tur RI.di.cu.LUS mus.
So wird es uns rhythmisch, und deshalb und auf diese Weise machen wir, nämlich »wir« seit Beginn der Neuzeit, die antiken Verse zu Versen nach dem Taktwesen, nach betont und unbetont. Diejenigen Betonungen, die uns ein Geräusch zu einem rhythmischen machen, legen wir hinein, und die Akzente, welche die Sprache für sich tragen würde, unterdrücken wir – falls sie nicht zufällig, wie bei »nas.cé.tur«, mit den hineingelegten zusammenfallen. So ist die Übung seit Beginn des 17. Jahrhunderts, so lernt es, wer denn noch eine antike Sprache lernt, bis heute in Schule und Universität, und so sind im Laufe der Jahrhunderte wahrlich »Regimenter aus lauter Trommlern« über die armen Hexameter gejagt worden, und jeder hat seine Ikten darauf geschlagen – so heißen diese neuzeitlich hinzugefügten Betonungen: von ictus, der Schlag.
Diese Übung ist historisch aufs brutalste falsch, und dennoch ist sie legitim, verständlich, hat sie ihr unvermeidliches Recht: eben weil wir Rhythmus nunmehr anders empfinden als die Menschen der Antike. Wenn wir ihre Verse also überhaupt noch rhythmisch wahrnehmen wollen, können wir gar nicht anders, als denjenigen Rhythmus daraufzuschlagen, der uns nun einmal als einziger ins Ohr geht – nach jenem Zwang, über den wir nichts vermögen und von dem wir auch nichts weiter wissen. Gerade aber, weil er uns unbewusst bleibt, schlägt er auch alles Wissen, das daran hängt, mit spezifischer Blindheit. Wissenschaft nämlich, die ehrwürdigste klassische Philologie, hat jenes Iktieren ja nicht bloß als einen bewussten Notbehelf empfohlen, um unseren Mangel an antiker Rhythmuswahrnehmung auszugleichen, – und ein solcher Notbehelf ist das Iktieren und als dieser Notbehelf hat es sein Recht –; sondern sie hat behauptet, schon die Griechen und Römer selbst hätten ihre Verse so gesprochen, hätten so iktiert wie wir. Statt nach ihren Längen und Kürzen und ihrem natürlichen Wortakzent zu sprechen:
át.qu’íl.lud pró.no práe.ceps á.gi.tur de.cúr.su,
hätten auch die antiken Dichter so auf ihren Versen herumgetrampelt:
AT.qu’il.LUD pro.NO prae.CEPS a.gi.TUR de.CUR.su.
Man mache sich für einen Moment klar, was damit behauptet ist: Die Griechen und Römer hätten also mühevoll und sorgsam ihre Verse nach Länge und Kürze der Silben gedichtet, kompliziert wie etwa in den vorgeführten Trimetern und so, wie es nun einmal aufs genaueste belegt, überliefert und an den Versen festzustellen ist; aber Rhythmus hätten dieselben Griechen und Römer gerade nicht an diesen Längen und Kürzen empfunden, sondern an irgendwelchen recht unabhängig davon auf die Silben geschlagenen Betonungen – von denen nebenbei absolut nichts überliefert ist. Das ist etwa so, als wollte man die archäologisch eindeutige Feststellung, dass die Römer zur Heizung ihrer Thermen kunstvolle Hypokausten angelegt haben, mit der Behauptung zieren, die Wärme wäre aber von einer Zentralheizung gekommen.
Natürlich ist das Unsinn und, so möchte man meinen, auf Anhieb als Unsinn zu erkennen. Trotzdem ist diese Lehre aufgekommen, und nicht nur aufgekommen, sie war über Jahrhunderte hinweg die geltende wissenschaftliche Doktrin, hartnäckig gegen vereinzelte Kritik verteidigt, blindwütig gegen die