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an seien Verse nach betont und unbetont zu dichten. Er vollzieht also ganz offen und bewusst den Übergang zu Akzentversen, zu einer Versart, die es nach seinen eigenen Worten bis dahin nicht gegeben, die er selbst bis dahin nicht gekannt habe.54

      Als erstes eine Frage am Rande: Weshalb vollzieht sich die Einführung der Akzentverse nicht ebenso geräuschlos von selbst wie die des Taktrhythmus in der Musik? Weshalb muss Opitz das Neue überhaupt einführen? Weshalb also gibt es bei den Versen eine Reform, die es in der Musik gerade nicht hat geben können?

      Die Notwendigkeit, die neue Rhythmik erstens selbst als etwas Neues zu erkennen und dies Neue zweitens der Beachtung anderer zu empfehlen, ergibt sich wiederum aus dem anders gearteten, nicht wie in der Musik frei formbaren Klangmaterial, auf das der Taktreflex bei den Versen trifft. Da deren Klangelemente, die Silben der Sprache, für sich bereits Betonungen tragen und da die taktrhythmische Synthesis auf solche klanglich gegebenen Betonungen reagiert, hat also der Dichter, der taktrhythmisch wahrnimmt, darauf zu achten, dass er die Silben in eine Abfolge bringt, die sich mit ihren Betonungen an die Möglichkeiten des Betonungsrasters der Synthesis hält, in eine Abfolge also, die sich dem synthetisch-gesetzmäßigen Wechsel von betont und unbetont einfügt und ihn zuverlässig bindet. Diese Beachtung der taktrhythmischen Gesetzmäßigkeit muss der Dichter insofern bewusst vollziehen, ihrer hat er sich bewusst zu werden, auch wenn er sonst von einem Reflex nichts, aber auch gar nichts weiß – er bemerkt ja dessen Wirkung. Zu der Zeit, da dieser Reflex überhaupt erst aufkommt, gibt es folglich für die Dichter, anders als für die Musiker, den historischen Augenblick, da sie sich dieser Beachtung bewusst zu werden haben. Das kann je nach Sprache etwas früher oder später erfolgen, eben weil es hier auf das sprachlich vorgeprägte Klangmaterial ankommt und auf die unterschiedliche Nachgiebigkeit, mit der die Sprachen eine Einwirkung der Synthesis auf ihr Klangmaterial zulassen. In den romanischen Sprachen kommt es nie zu einer Akzentmetrik, im Englischen dagegen sehr früh – der erste Beleg, George Gascoignes Certaine notes of instruction concerning the making of verse or rime in English, stammt aus dem Jahre 1575. Im Deutschen braucht es dafür bis zum Jahre 1624.

      Damals dekretiert Martin Opitz mit den folgenden dürren Worten eine bis dahin vollkommen unerhörte, neue Art von Versbau:

      Nachmals ist auch ein jeder verß entweder ein iambicus oder trochaicus; nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse grösse [sc. Länge oder Kürze] der sylben können inn acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen / welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden.55

      »Nachmals«, von nun an also soll es nach betont und unbetont gehen; bisher hat es dies nicht getan. »Ein jeder verß« soll danach gehen; es gilt also grundsätzlich. Und gesetzmäßig soll es gehen; als »iambicus« so:

       die erste sylbe niedrig / die andere hoch / die dritte niedrig / die vierde hoch / vnd so fortan /

      und als »trochaicus« so:

       die erste sylbe hoch / die andere niedrig / die dritte hoch / etc.

      Ein aufschlussreiches »etc.«, »vnd so fortan«. Man wird sich erinnern, dass eine Folge antiker Jamben – und für Trochäen und alle übrigen Versfüße gilt das Gleiche – mit dieser Art regelmäßigem Auf und Ab, selbst wenn man es in das lang und kurz der Antike übertragen würde, keinerlei Verwandtschaft hat. Opitz benötigt aber für die neue Art von Versverlauf zwei Namen, und die nimmt er, zu seiner Zeit nicht anders denkbar, aus der Antike, auch wenn er die Begriffe dafür entschieden umdeuten muss. Wie aber kommt Opitz auf diese Art von Versbau?

       Wiewol nun meines wissens noch niemand / ich auch vor der zeit selber nicht / dieses genawe in acht genommen / scheinet es doch so hoch von nöthen zue sein / als hoch von nöthen ist / das die Lateiner nach den quantitatibus oder grössen der sylben jhre verse richten vnd reguliren.

      Opitz weiß von keinem Vorgänger, kann sich auf keine Autorität berufen, ja mehr noch, er selbst hat bisher nicht nach Akzenten, sondern anders gedichtet. Und trotzdem, obwohl es »vor der zeit« anders war und Opitz es anders kannte, empfindet er jetzt mit einem Mal zwingenden Anlass zu diesem, einem neuen, ihm bisher selbst noch unbekannten Versbau. Und dieser Anlass lautet schlicht und unhintergehbar: Es scheinet »hoch von nöthen« zu sein – mehr vermag Opitz nicht dazu zu sagen. Kein Zwang der Tradition lastet auf ihm, kein Zwang der Konvention, überhaupt kein Zwang von außen, auch von der Sprache kann er nicht ausgehen, denn weder hatte die deutsche Sprache bis dahin je nach Akzentmetrik verlangt, noch wandelt sich damals ihr Klangbild in irgendeiner Weise, die eine veränderte Behandlung in Versen erfordern könnte.56 Nein, eine innere Nötigung muss es sein, auf die sich Opitz beruft, ein Zwang, den er nunmehr unwillkürlich und unwiderstehlich empfindet.

      Aber dass er ihn erst jetzt empfindet, dass ihm das Neue erst vonnöten wird, dass also der Zwang damals erst in ihm aufkommt, es lässt sich hier wunderbar genau belegen. Opitz hatte sich der Dichtkunst ja nicht erst mit der Niederschrift seiner Poeterey zugewandt, sondern schon all die Jahren zuvor fleißig Verse geschrieben. Und zwar selbstverständlich Verse der Art, wie bis dahin alle sie gedichtet hatten: rein silbenzählend, ohne jede Festlegung der Akzente. Neben ihrer Reimbindung sind diese Verse also allein festgelegt in der Anzahl ihrer Silben – und selbst die konnte, im freien Knittelvers etwa, schwanken. Rein silbenzählende Alexandriner lauten zum Beispiel so:

      Der Tugent klarer glanz / welcher deinen aufgang /

      Mehr dan andrer mittag / vnvergleichlich gezieret /57

      Oder auch:

      Venus hat die Juno nicht vermocht zue obsiegen

      Keine Festlegung nach einem gesetzmäßigen betont/unbetont, kein Zwang zu einer bestimmten Abfolge der Akzente: So wurden diese Verse gedichtet, so wurden sie gehört, so wurden sie gelesen und goutiert. Die Sprachakzente durften so frei fallen, wie sie mochten, und ebenso natürlich – wir würden heute sagen: wie Prosa – waren sie auch zu lesen. Solche Verse hatten alle und so auch Opitz gedichtet, auch er bis dahin ohne alle Nötigung, die Sprachakzente in ein gesetzmäßiges betont/unbetont einzupassen. Das aber ändert sich. Zu der Zeit, da er schließlich die Poeterey verfasst, scheint ihm das betont/unbetont mit einem Mal »so hoch von nöthen«, dass es nicht anders mehr sein kann; und er gibt ein Beispiel für diese Notwendigkeit.

       Denn es gar einen übelen klang hat:

       Venus die hat Juno nicht vermocht zue obsiegen;

      weil Venus und Juno Jambische / vermocht ein Trochéisch wort sein soll.

      Der Vers ist ein Alexandriner so makellos trefflichen Klangs, wie ihn ein rein silbenzählender Vers nur immer haben kann – und wie ihn Opitz immerhin bis eben noch selbst verwendet hatte. Nunmehr aber hat derselbe Vers für Opitz »einen übelen klang«, warum? Weil es jetzt so heißen soll:

       Venus die hat Juno nicht vermocht zue obsiegen;

      und weil deshalb statt Vénus »jambisch« Venus gesprochen werden soll oder umgekehrt statt vermócht »trochéisch« vermocht. Auf diese Weise ergibt sich zweifellos ein übler, nämlich sprachwidriger Klang, doch wie kommt es dazu? Allein dadurch, dass es da jambisch oder trochäisch zugehen »soll«!

      Wer aber schreibt das vor, woher kommt dieses Sollen? Opitz stellt doch gerade erst selbst die Forderung auf, dass es »nachmals« nach betont/unbetont, »Jambisch« oder »Trochéisch«, zugehen soll – und begründet dieses Sollen in seinem Beispielvers womit? Damit, dass es dies Sollen einfach schon gibt! Er weiß – so sagt er selbst: »meines Wissens« –, dass bis dato niemand, dass auch er selbst dies Sollen nicht empfunden und nicht beachtet hat; doch jetzt mit einem Mal ist es da – und Opitz vermag es nur noch hinzunehmen, vermag nur noch darauf hinzuweisen, dass es da ist. Denn nun hört

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