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sind? Und warum sollten manche Schulden höher verzinst werden als andere, was das höhere Ausfallrisiko widerspiegelt? Bankrott und die Abschreibung von Schulden wurden für den Kapitalismus das, was in der christlichen Lehre seit jeher die Hölle ist: unangenehm, aber notwendig. Doch seltsamerweise flüchtete man sich im 21. Jahrhundert beim Umgang mit der Insolvenz des griechischen Staats wieder in die Verleugnung des Bankrotts. Warum? Erkannten die EU und der IWF nicht, was sie da taten?

      Im Gegenteil, sie wussten genau, was sie taten. Obwohl sie in ihrer peniblen Propaganda immer behaupteten, sie wollten Griechenland »retten«, dem griechischen Volk eine zweite Chance geben, Griechenlands chronisch korrupten Staat reformieren helfen und so weiter, gaben sich die mächtigsten Institutionen und Staaten keinen Illusionen hin. Sie wussten, dass man eher Blut aus einem Stein pressen kann, als ein bankrottes Gebilde dazu bringen, dass es seine Kredite zurückzahlt, indem man ihm noch mehr Geld leiht, besonders wenn man als Teil des Handels auch noch sein Einkommen reduziert. Sie sahen, dass die Troika daran scheitern würde, das Geld der Steuerzahler, mit dem man Griechenlands Staatsschulden refinanziert hatte, wieder hereinzuholen, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, das Tafelsilber des gestürzten Staates zu konfiszieren. Sie wussten, dass die berühmten »Rettungs«- oder »Bailout«-Pakete nichts anderes waren als Fahrscheine für die einfache Fahrt ins Schuldgefängnis, ohne Rückfahrt.

      Woher weiß ich, dass sie es wussten? Weil sie es mir gesagt haben.

      Gefangene ihrer eigenen Machenschaften

      Fünf Jahre später, als Finanzminister, erfuhr ich es direkt von der Quelle. Spitzenbeamte des IWF, der deutsche Finanzminister, führende Mitarbeiter der EZB und der Europäischen Kommission – alle gaben zu, jeder auf seine oder ihre spezielle Weise, dass es stimmte: Sie hatten mit Griechenland einen unmöglichen Handel abgeschlossen. Aber nun führte aus ihrer Sicht kein Weg mehr zurück.

      Nicht einmal einen Monat nach meiner Wahl, am 11. Februar 2015, saß ich in einem jener bedrückenden fensterlosen, von Neonlicht erleuchteten Besprechungsräume, von denen die EU-Gebäude in Brüssel voll sind, der IWF-Präsidentin Christine Lagarde gegenüber, einer ehemaligen französischen Finanzministerin und hochkarätigen Anwältin in Washington. Früher an dem Tag war sie in das Gebäude geschwebt, gekleidet in eine elegante Lederjacke, die sogar meine blass und unauffällig erscheinen ließ. Da dies unsere erste Begegnung war, plauderten wir erst einmal freundlich auf dem Flur, bevor wir zu den ernsthaften Gesprächen in den Besprechungsraum gingen.

      Hinter verschlossenen Türen, rechts und links eingerahmt von jeweils zwei Mitarbeitern, verlief unsere Unterredung ernst, aber immer noch genauso freundlich. Sie ließ mich meine Analyse von Ursache und Natur der griechischen Situation darlegen und meine Vorschläge für den Umgang mit der Krise unterbreiten und nickte die meiste Zeit zu meinen Worten. Ich hatte den Eindruck, dass wir eine gemeinsame Sprache sprachen und beide ein gutes Verhältnis wollten. Am Schluss, auf dem Weg zur Tür, gab es noch ein kurzes, entspanntes, aber vielsagendes Tête-à-Tête. Christine griff meine Argumente auf und stimmte meinen Plädoyers für Schuldenerleichterungen und niedrige Steuersätze als Vorbedingungen für die wirtschaftliche Erholung Griechenlands zu. Und dann setzte sie mich ganz ruhig und offen schachmatt: »Du hast natürlich recht, Yanis. Die Ziele, auf denen sie beharren, können nicht funktionieren. Aber du musst verstehen, dass sie schon zu viel in dieses Programm investiert haben. Sie können nicht mehr zurück. Deine Glaubwürdigkeit hängt davon ab, dass du dieses Programm akzeptierst und dich daran hältst.«2

      Da hatte ich es: Die Präsidentin des IWF sagte dem Finanzminister eines bankrotten Landes, dass die Politik, auf die man sein Land verpflichtet hatte, nicht funktionieren konnte. Nicht, dass es schwierig sein würde, sie umzusetzen. Nicht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie funktionierte, gering war. Nein, sie gab rundheraus zu, dass sie nicht funktionieren konnte, komme, was da wolle.

      Mit jedem Treffen, insbesondere mit den klügeren und nicht ganz so unsicheren Beamten der Troika, verfestigte sich bei mir der Eindruck, dass es hier nicht einfach um wir gegen sie ging, um gut gegen böse. Vielmehr bahnte sich ein echtes Drama an, das an ein Theaterstück von Aischylos oder Shakespeare erinnerte, in dem mächtige Verschwörer am Ende in ihre eigene Falle tappen. In dem realen Drama, dessen Zeuge ich wurde, kam in dem Augenblick, als sie ihre Ohnmacht erkannten, Summers’ heilige Insiderregel ins Spiel. Die Luken gingen zu, offiziell wurde alles abgestritten, und die Folgen des tragischen Dilemmas, das sie geschaffen hatten, entfalteten sich auf Autopilot. Dabei verstrickten sie sich immer mehr in eine Situation, die sie hassten, weil sie ihre Kontrolle über den Gang der Ereignisse immer weiter schwächte.

      Aber weil sie – die Spitzen von IWF, EU, der deutschen und der französischen Regierung – unglaublich viel politisches Kapital in ein Programm investiert hatten, das Griechenland immer tiefer in den Bankrott trieb, unfassbare Not über uns brachte und unsere jungen Leute scharenweise in die Emigration trieb, gab es keine Alternative: Das griechische Volk würde einfach weiter leiden müssen. Für mich, den Neuling auf der politischen Bühne, hing die Glaubwürdigkeit davon ab, dass ich eine Politik akzeptierte, von der die Insider wussten, dass sie scheitern würde, und dass ich ihnen half, sie den Outsidern zu verkaufen, die mich gerade deswegen gewählt hatten, weil ich versprochen hatte, eben dieser gescheiterten Politik ein Ende zu machen.

      Es ist schwer zu erklären, aber ich empfand von Anfang an keine Feindseligkeit gegenüber Christine Lagarde. Ich erlebte sie als intelligent, herzlich, respektvoll. Mein Weltbild geriete nicht ins Wanken, wenn bewiesen würde, dass sie tatsächlich eine humane Übereinkunft mit den Griechen wollte. Aber das spielt keine Rolle. Für sie als wichtiger Insider hatte es höchste Priorität, das politische Kapital der Insider zu schützen und jede Bedrohung ihrer kollektiven Autorität abzuwehren.

      Doch mit der Glaubwürdigkeit verhält es sich wie mit den Ausgaben: Man muss Kompromisse machen. Jeder Kauf bedeutet den Verzicht auf eine Alternative. Mein Verhältnis zu Christine Lagarde und anderen Mächtigen zu verbessern, bedeutete, meine Glaubwürdigkeit in den Augen von Lambros zu schmälern, dem obdachlosen Dolmetscher, der mich beschworen hatte, die Interessen all der Menschen zu vertreten, die noch nicht wie er von dem Sturm des Bankrotts erfasst worden waren, der über unser Land hinwegfegte. Dieses persönliche Dilemma stellte sich für mich nicht. Die amtierenden Machthaber erkannten das früh, deshalb war es für sie wichtig, mich von der Bühne zu vertreiben.

      Knapp ein Jahr später reiste ich im Vorfeld des britischen EU-Referendums vom 23. Juni 2016 durch Großbritannien und hielt Reden zur Unterstützung der Kräfte, die für einen Verbleib in der EU kämpften. Sie argumentierten, Großbritannien müsse in der EU bleiben, um Widerstand von innen zu leisten, um die EU zu reformieren und vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Es war schwierig. Die britischen Outsider zu überzeugen, für den Verbleib zu stimmen, erwies sich als Sisyphusarbeit, besonders im Norden von England, weil selbst meine britischen Unterstützer – Männer und Frauen, die in ihrer Denkweise und Haltung Lambros näherstanden als Christine – mir sagten, sie verspürten den Drang, dem globalen Establishment eine Tracht Prügel zu verpassen. Eines Abends hörte ich in der BBC, dass Christine Lagarde sich mit den Leitern der anderen Top-Institutionen der Welt (der Weltbank, der OECD, der EZB, der Bank of England und so weiter) zusammengetan hatte, um die britischen Outsider vor den Verlockungen des Brexit zu warnen. Sofort schickte ich aus Leeds, wo ich an dem Tag sprechen sollte, eine SMS an Danae: »Wer braucht noch Kämpfer für den Brexit, wenn er solche Verbündete hat?«

      Der Brexit hat gewonnen, weil die Insider den Bogen überspannt haben. Nach Jahrzehnten, in denen sie die Glaubwürdigkeit von Menschen wie mir daran maßen, ob wir bereit waren, die Outsider zu betrügen, die für uns gestimmt hatten, merkten sie nicht einmal, dass die Outsider sich nicht im Mindesten um ihre Meinung scherten. Ob in Amerika oder Großbritannien, in Frankreich oder Deutschland, überall spüren die Insider, dass ihnen die Felle davonschwimmen. Weil sie Gefangene ihrer eigenen Machenschaften sind, Sklaven von Summers’ Dilemma, sind sie wie Macbeth dazu verdammt, Irrtum auf Irrtum zu häufen, bis sie begreifen, dass ihre Krone nicht mehr die Macht symbolisiert, die sie innehaben, sondern die Macht, die ihnen entglitten ist. In den wenigen Monaten, die ich mit ihnen zu tun hatte, bekam ich einen Eindruck von dieser tragischen Erkenntnis.

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