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falsch verstanden zu werden. Die riesige Angst davor, nicht zu gefallen. Und sich nicht richtig darzustellen: mich als schwächer zu präsentieren, als ich sein will. Nur die negativen Facetten hervorzuheben oder gar zu jammern. Die große Frage dabei: Wie bringt man Leute dazu, die eigene Geschichte und ihre Scham zu verstehen, ohne wie der letzte mitleiderregende Wurm dazustehen?

      In Schreibtisch mit Aussicht merkt Ilka Piepgras im Vorwort an: »Frauen denken beim Schreiben den Blick von außen instinktiv mit, sie zensieren sich selbst.«6 Um Blicke wird es in diesem Buch oft gehen, denn mit ihnen kommt und geht die Scham. Und ich denke, Piepgras hat recht mit ihrer Behauptung – ich kann mich da nicht ausnehmen. Ich weiß, welche Kritik an meinem Schreiben kommen kann und wird: auch dies hier sei »Betroffenheitsprosa«, wäre selbstbezogen, nach innen gerichtet, wenig übertragbar. Ich weiß, dass ich radikal subjektiv schreibe, dass ich mit dieser Geschichte meiner Geschichte einen Raum gebe, den ich ihr sonst nie gegeben habe. Weil ich immer versucht habe, den Blick von außen mitzudenken. Mich ihm anzupassen, um Scham zu vermeiden.

      Immer war ich damit beschäftigt, eben genau nicht zu tun, was ich wollte, weil das nicht ist, was ich gelernt habe. Mit diesem Buch nehme ich mir endlich Raum. Eigentlich ist dieses Buch also all das, was ich mich nie getraut habe, wovor ich immer Angst hatte, was mit viel zu viel Scham belegt war. Und gleichzeitig ist das, was du hier in der Hand hältst, auch ein Kampf um das Recht auf Emotion und auf Scham. Ein Kampf um meine Scham.

      Trotzdem: Blicke ich auf die Menschen, oft Frauen, die sich so vorbildlich in mein Leben eingeschrieben haben, die mir Teile ihrer Geschichte erzählt haben, so eindrücklich, als würde ich mit ihnen gemeinsam bei einem guten Wein auf der Couch sitzen und ihnen zuhören – blicke ich auf sie, ihr Schreiben und darauf, wie mit ihren Werken umgegangen wird und wurde, bekomme ich Angst. Mely Kiyak zum Beispiel, die als Teil der »Hate Poetry«-Veranstaltungen an sie gerichtete Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, Hassbriefe und Verwünschungen vorlas. Oder Margarete Stokowski, die sich auch in ihrer Kolumne immer wieder mit Hate Speech auseinandersetzt. Wäre mein Französisch gut genug, würde ich auch nachlesen, welche Reaktionen es auf Annie Ernaux’ Werke so gab. Gut, dies sind Frauen, die wirklich bekannt sind, zu deren Texten es Kommentarspalten gibt. Das sind alles Frauen, deren Schreiben kritisch beäugt wird und deren politische Ansichten noch mal doppelt kritisch begutachtet werden. Aber trotzdem weiß ich, dass man nicht bekannt sein muss, um gehasst zu werden. Vielleicht werden Leute sagen: »Ach, das war ja klar, wieder so eine Frau, die halt über Gefühle schreibt, nichts Neues.« Vielleicht werden Leute mir vorwerfen, ich würde jemanden nachahmen oder imitieren. Wenn sie wollen, wird ihnen etwas einfallen.

      Ich versuche gedanklich alle Argumente durchzuspielen, die mich treffen könnten und mir Gegenargumente zu überlegen. Ich versuche mich mental schon vorbereitend zu immunisieren, vergesse dabei, dass ich ja noch vor dem Anfang stehe. Und dass es hier darum geht, mal nicht auf die Blicke der anderen Rücksicht zu nehmen, sie schon im Vorhinein zu beachten und zu deuten. Sondern meinen Blick auf mich zu richten und auf das, was meine Geschichte ausmacht. Dabei tue ich natürlich den Geschichten anderer Leute unrecht. Ich webe sie einfach so in meine Geschichte ein, obwohl ich sie zum Teil gar nicht komplett kenne. Weil ich weiß, wie furchtbar es sich anfühlt, seiner Geschichte beraubt zu werden, fürchte ich mich davor, das anderen Leuten auch anzutun.

       Wachsende Scham

      Fast würde ich mir wünschen, dir eine ästhetische Geschichte über die Scham und das Schreiben erzählen zu können. Mit Spannungsbogen und Happy End. Sie würde dann einer klassischen Dramaturgie folgen – in Kurzform etwa so:

      Irgendeine Erfahrung der Demütigung, der Ausgrenzung, die Schamgefühle nach sich zieht. Sie steigern sich klimaktisch bis zum schmerzhaften Höhepunkt. Dann: schreiben als Erlösung, als Rettung. Ende: Die Scham ist weg. Ich habe sie schreibend überwunden. Die Moral: sich öffnen, erzählen, Schreiben löst die Scham auf. In der Verbindung mit den Lesenden stirbt sie, weil Scham sich von der Einsamkeit nährt. Das stimmt und gleichzeitig ist es auch falsch.

      In dieser Geschichte würde ich mit einem Glas Rotwein an meinem Küchentisch sitzen, vor meinem Laptop, vielleicht noch eine Zigarette in der Hand? Rauchen und Schriftstellerin sein, das passt zusammen. Aber ich würde dich anlügen, würde ich meine Geschichte so erzählen.

      Die Wahrheit ist, dass die Seiten teilweise entstanden sind, als mir nichts mehr gesichert schien, kein einziger Gedanke, kein Wissen, keine Überzeugung. Oder als ich noch neben der Kloschüssel saß, das Erbrochene noch nicht einmal hinuntergespült und den Speichel in meinem Mundwinkel noch gar nicht richtig weggewischt hatte. Die Wahrheit ist, dass nichts an diesem Schreibprozess ästhetisch oder erleichternd war.

      Es war schmerzhaft. Es war unangenehm. Wie ein Tier habe ich mich um das Schreiben gewunden. Ich war der Überzeugung, es hätte keinen Zweck, all das aufzuschreiben. Es würde nicht helfen, mir nur noch mehr schaden, weil es in der Vergangenheit eine so selbstschädigende Praxis gewesen war, alles aufzuschreiben, was mir durch den Kopf ging.

      Ich dachte mal, ich würde an meiner Scham sterben. Sie würde mich umbringen, sich wie eine Schlingpflanze allmählich um meinen Hals legen, um mich irgendwann im Schlaf zu erdrosseln.

      Und tatsächlich ist das Bild der Pflanze eines, was mir im Bezug auf die Scham sehr gut gefällt: Eine Freundin erzählt mir von einem ganz bestimmten Moment, der für ihre Schamgefühle maßgeblich war. Um das zu veranschaulichen, wählt sie das Bild der Pflanze: Jemand demütigt uns, verletzt uns oder trifft uns an einem sehr verwundbaren Punkt unseres Selbst. Wir werden hart kritisiert, vielleicht sogar traumatisiert, ausgegrenzt oder sind öffentlicher Stigmatisierung und Beschämung ausgesetzt – hier wird der Samen für die zukünftige Schampflanze gesät. Im Laufe der Jahre kommen andere Schamsituationen hinzu. Wir fallen raus aus irgendwelchen Mustern, die von wem auch immer zum Ideal erklärt werden, und die Schampflanze wächst weiter. Sie wächst und wächst und wächst. Vielleicht wächst sie uns über den Kopf.

      Ich will wissen, woraus meine Schampflanze besteht und wie sie so groß werden konnte. Das zu ergründen bedeutet, auch die Existenzbedingungen dieses Textes abzustecken, auf bestimmte Figuren immer wieder zurückzukommen. Was sind die Voraussetzungen meiner Scham, was ist das Material, aus dem die Pflanze besteht? Und, wenn ich es herausgefunden habe, was mache ich damit?

      Annie Ernaux schreibt: »Nur weil man die eigene Scham versteht, kann man sie noch lange nicht überwinden.«7 Und ich glaube, sie hat recht damit. In den Schmerz reinzugehen, heißt nicht, dass er erträglicher wird. Und ich suche mir immer wieder Auswege, um bestimmten Erinnerungen nicht gegenübertreten zu müssen.

      Meine Scham soll nicht gänzlich verschwinden, deshalb will ich ihr begegnen. Ich will die Distanz zwischen mir und meinem vergangenen Ich verringern, sie abschreiten. Dafür muss ich an die Schammomente ran, auf denen die Distanz beruht. Versuchen, noch mal zurückzugehen in die eigene Jugend, auch wenn ich manchmal glaube, dass das unmöglich alles passiert sein kann, dass ich unmöglich so empfunden haben kann, dass nie im Leben ich diejenige war, die diese Tagebucheinträge geschrieben hat. So groß ist die Distanz zum eigenen Selbst geworden.

      Als ich vor einem Bekannten zugebe, dass ich wahnsinnig gerne irgendwann meine Autobiografie schreiben würde, erwidert er: »Für eine Autobiografie muss man was erlebt haben.« Vermutlich meint er damit nicht einfach nur, dass man irgendetwas erlebt haben muss, sondern dass man etwas Besonderes erlebt haben muss. Was auch immer das dann sei.

      »Stimmt«, denke ich, und bin entmutigt. Ich habe nichts erlebt. Schon gar nichts Besonderes. Ich habe genau das erlebt, was tagtäglich zig Menschen irgendwo erleben, und darüber öffentlich zu schreiben lohnt sich nicht. Und ich fürchte an diesem Abend auch, nicht gelebt zu haben. Nichts mehr erzählen zu können, keine Geschichte mehr zu besitzen. Aber die Scham belehrt mich eines Besseren – und deshalb will ich meine Geschichte entlang der Scham erzählen, des Schamerlebens. Denn vielleicht sollte man ja dem Alltäglichen mehr Aufmerksamkeit widmen, den Randgestalten, dem Beiläufigen, den wiederkehrenden Ängsten und Gedanken und den sich immer wiederholenden Mustern.

      Georges Perec: »Schreiben: peinlich genau versuchen,

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