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Selbst ausmacht, also besonders bestimmend ist. Sie betrifft uns als Ganzes. Auf den starken Bezug der Scham zum Selbst, also zur eigenen Identität, zum gesamten Ich kann sich ein Großteil der Schamliteratur einigen.A

      Klingt nicht so, als sollte man Bücher über die eigene Scham schreiben, oder? Annie Ernaux hat aber genau das gemacht und ich kann zumindest für mich sagen, dass sie mir damit auf eine Art das Leben gerettet hat.

      Ich muss auch zugeben, dass ich neugierig bin; zu neugierig, um dieses heimlichste Gefühl der Gesellschaft zu missachten und es weiterhin totzuschweigen. Wenn wir uns schämen, können wir oft nichts mehr sagen, wir verstummen im Angesicht der Scham. Sie nimmt uns die Worte, legt sich auf unsere Stimmbänder. Aber so lassen sich keine Geschichten erzählen.

      Nur weil die Scham uns schweigen lässt, heißt das nicht, dass wir vergessen. Annie Ernaux behauptet sogar das Gegenteil: »Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere. Es ist im Grunde die besondere Gabe der Scham.«4 Die Scham hält also viel mehr unsere Erinnerung wach und sorgt dafür, dass wir auf keinen Fall vergessen können, was war.

      Wir werden in diesem Buch merken, dass sich die Frage nach Narrativen, nach Erzählweisen, nach dominanten und weniger dominanten Erzählungen, nach populären und abseitigen Geschichten gar nicht so selten am Punkt der Scham entscheidet. Dass Scham eigentlich für jede Erzählung eine Rolle spielt, an dem Punkt nämlich, an dem wir uns entscheiden müssen, was wir wie erzählen und warum.

      Ich halte die Scham für ein unfassbar authentisches Gefühl – eben weil sie sich unserer Kontrolle, den gewohnten Mechanismen der Inszenierung entzieht. Wir können nicht anders, als in der aufrichtigen Scham authentisch zu sein, wir haben gar keine Wahl, weil Scham ein Affekt ist, der mit auffälligen körperlichen Reaktionen verbunden ist: Man denke an das schamtypische Erröten, das Erstarren, an unkontrolliertes Lachen oder das Vermeiden von Augenkontakt. Vor allem das Erröten ist eine Reaktion auf Scham, die wir nicht kontrollieren können: Ihr Ursprung liegt in unserem vegetativen Nervensystem, das für eine verstärkte Blutzufuhr im Gesicht sorgt. Physiologisch gesehen dient diese Reaktion vor allem dazu, die eigenen Körpergrenzen anderen gegenüber deutlich zu machen. Warum unser Körper aber mit einer so auffälligen Geste auf Scham reagiert, obwohl wir in der Scham verschwinden wollen, ist bisher noch nicht abschließend geklärt.5

      Und während ich mir das bewusst mache, bemerke ich, dass die Scham dennoch trügerisch ist: Auch wenn sie eine wichtige Schutzfunktion darstellt, muss ich trotzdem Folgendes hinnehmen: Sie schreibt ihre eigene Geschichte. Und das ohne Rücksicht auf Verluste und vor allem ohne Rücksicht auf unsere Bedürfnisse und Hoffnungen.

      Ich habe jetzt über zehn Jahre lang versucht, die Geschichte meiner Scham nicht zu erzählen. Das Schweigen über bestimmte Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle, Zustände war mein ständiger Begleiter und das war, finde ich, zum Teil und für eine gewisse Zeit auch in Ordnung so. Über zehn Jahre musste ich zwischen mich und mein vergangenes Ich bringen, um mich ihm wieder stellen zu können. Um dazu imstande zu sein, musste ich aber zwischen mir und meiner Scham eine enorme Distanz aufbauen: Man muss den Blick der anderen einnehmen, denen man immer genügen wollte.

      Um mich meiner Scham zu bemächtigen, habe ich mit Untergewicht und selbstverletzendem Verhalten reagiert und die Folgen in Kauf genommen. Ich habe Stille gemieden und mich in Schweigen gehüllt, meinen Körper und meinen Kopf an die äußersten Grenzen getrieben, um der Scham nicht zu begegnen. Bis sie durch eine Hintertür eindrang und meine Erzählung von mir selbst radikal torpedierte.

      Sie kam in Träumen über Verluste und Ängste, sie kam in Flashbacks, Dissoziationen, in Panikattacken, depressiven Phasen, sie hat sich ihren Weg gesucht. Wieder: rücksichtslos. Und jetzt will ich der Scham einen Raum geben. Sie sprechen, ihre Geschichte erzählen lassen.

      Dass sie dadurch weniger wird oder gar verschwindet, erwarte ich nicht – die Illusion nimmt Annie Ernaux mir schnell. Das ist auch nicht das Ziel, die Scham einfach loszuwerden, sie ein weiteres Mal durch eine Verarbeitung beherrschen zu wollen, sonst würde ich mich direkt in Ratgeberliteratur à la Brené Brown einreihen. Nein, die Scham wird bleiben.

      Deshalb muss man sich mit ihr auseinandersetzen – aber wie? Man kann sich ihr nicht methodisch nähern. Man kann sich ihr allgemein überhaupt nicht wirklich »nähern«. Man kann sich ihr entweder ergeben oder sich von ihr fernhalten. Das eine kann versöhnen, das andere auf lange Sicht nur zur Selbstentfremdung führen. Denn die Scham gehört zu uns, immer.

      Auf die Scham gekommen bin ich, als ich Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis gelesen habe. Für mich drei unfassbare Größen zeitgenössischer französischer Literatur. Der Platz (Ernaux) hat mich mitgenommen, wow. So die Rückkehr nach Reims (Eribon) und Das Ende von Eddy (Louis). Aber am meisten verloren habe ich mich vermutlich in Ernaux’ Erinnerung eines Mädchens. Dieses Buch hat meine Faszination für die Scham befeuert wie kein anderes. Aber trotz all der Begeisterung, die ich mittlerweile für meine Scham habe, weiß ich nun: Ich bin nicht meine Scham. Sie ist nur ein Teil von mir.

       Die Scham fürchten

      Wir verfolgen jetzt gemeinsam (m)eine Geschichte, also du, der*die Lesende, und ich. All das schreibe ich in der Hoffnung auf, dass du Verständnis hast. Ich erzähle die Geschichte, weil ich ziemlich lange nach Verständnis gesucht habe, weil sich durch meine Erzählung das Gefühl zieht, unverstanden zu sein. Immer fehl am Platz, irgendwie (w)ortlos. Unverständnis paart sich mit dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein, nicht dazuzugehören. Vielleicht kannst du nachvollziehen, wie ich mich gefühlt habe, warum ich so gehandelt habe, weil du Teile meiner Geschichte wiedererkennst? Weil Teile meiner Geschichte auch Teile deiner Geschichte waren und vielleicht noch sind? Vielleicht haben unsere Geschichten ja manchmal etwas gemeinsam. Vielleicht begegnest du dir in einigen meiner Erfahrungen. Und vielleicht beginnst du mit Freund*innen, deiner Familie, Kolleg*innen, Vertrauenspersonen, vielleicht sogar mit weniger vertrauten Personen darüber zu sprechen, dich auszutauschen, zu diskutieren. Vielleicht zu streiten.

      In dieser Geschichte gibt es keine bösen Menschen. Es gibt nur Menschen, die Entscheidungen treffen. Und Menschen, auf die diese Entscheidungen Auswirkungen haben. Alle Figuren sind immer beides, ich sowieso.

      Man wird in diesem Buch über Scham vergebens nach Antworten auf Schuldfragen suchen. Wenn ich hier schreibe, dass mir Handlungen und Haltungen wehgetan haben, dann geht es nicht um diejenigen, die das gemacht haben und warum sie so gehandelt haben. Sondern es geht um das, was es in mir ausgelöst hat und warum. Solange wir das nicht verstehen, können wir die Geschichte nicht verstehen, die Scham nicht sezieren. Wenn wir immer nur nach Gründen fragen, aber nie nach Folgen. Die Scham ist Grund und Folge zugleich.

      Ich bin keine Psychologin, habe kein psychologisches Studium abgeschlossen, keine psychotherapeutische Ausbildung gemacht. Auch deshalb ist das hier kein Ratgeber, der Menschen sagt, wie sie glücklicher werden oder besser mit Scham umgehen können. Das hier ist einfach nur meine Geschichte, inklusive ein paar der Dinge, die ich aus meinem Studium oder meiner Therapie weiß, die ich im Lesen begriffen habe und die ich versuche für mein Leben zu lernen.

      Die Vorstellung, meine Geschichte zu erzählen, macht Angst. Nicht weil sie so besonders schlimm wäre oder weil ich mich nicht gründlich genug mit ihr auseinandergesetzt hätte, um zu wissen, was da ist. Nein, ich habe Angst vor eurem Blick, eurem Urteil. Davor, dass ihr mir meine Geschichte entreißt und sie anders erzählt oder dass ihr sie anders lest, als ich es mir wünsche. Das fällt mir immer noch schwer: zu akzeptieren, dass andere Menschen vielleicht ganz anders über mich denken und reden, als ich es will. Dass andere Menschen eine andere Geschichte von mir erzählen könnten. Wenn jemand mir meine Geschichte nehmen will, gerate ich in Panik, werde wütend. Weil es schon Momente gab, wo das passiert ist; wo sich Menschen meiner Geschichte bemächtigt haben und geglaubt haben, sie dürften über meine Geschichte entscheiden. Deshalb führe ich den Kampf um meine Geschichte manchmal mit absurder Vehemenz und manchmal an Stellen, an denen es absolut überflüssig ist. Aber diese übermäßige Vorsicht ist eine Folge aus dem, was ich bisher erlebt habe. Gerade jetzt merke ich, wie ich versuche mich zu rechtfertigen.

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