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sich benommen. Sie steigen zum Grat und holen Ruedis Rucksack. Die tote Gams ist verschwunden. Schließlich machen sie sich auf den Weg ins Tal. Es ist dunkel geworden, Lampen brauchen sie keine.

      Georg lächelt. Die Sache wird ein Nachspiel haben, aber sie sind mit einem blauen Auge davongekommen. Er freut sich auf Ruth. Er freut sich auf Maria. Vielleicht ist sie noch wach, wenn er nach Hause kommt. Der Rucksack ist schwerelos. Ganz unten liegt eine halbe Tafel Schokolade. Er legt die Hand auf die Brust und tastet nach der Benediktus-Medaille. Sie ist ihm aus der Tasche gefallen.

      Ruedi geht voran. Sein Hemd ist schmutzig, auf dem Rücken ist ein großer brauner Fleck zu sehen und unterhalb der Schulter ein Loch im Stoff.

      Ruedi?, fragt Georg. Ist alles in Ordnung mit dir?

      Auf dem Tisch brennt eine Kerze. Maria hat den Kopf gegen Ruths Brust gelehnt. Noch eine ganze Weile hat sie geweint, bevor sie vor Erschöpfung eingeschlafen ist. Ruth streicht ihr über den Kopf, küsst ihr Haar. Sie trägt ihre Tochter nach oben und legt sie ins Bett. Dann setzt sie sich zurück in die Stube und wartet.

      Sie hört das Geräusch von Autoreifen auf Kies, Scheinwerferlicht gleitet über die Decke. Ruth steht auf und öffnet die Haustür, bevor sie anklopfen.

      Berlinger blickt zu Boden. Neben ihm steht ein Junge, den sie noch nie gesehen hat. Die Uniform, die er trägt, ist ihm viel zu groß.

      Ruth, sagt Berlinger.

      Tränen steigen in ihre Augen. Ja?

      Dein Mann und der Ruedi. Er räuspert sich. Sie haben auf Lussi geschossen. Und auf seine Begleiter.

      Das ist nicht wahr! Du lügst!

      Sie mussten sich wehren. Sie konnten nicht anders. Berlinger nimmt die Mütze vom Kopf.

       Unter der Haut – Die Ärztin

      Ein Fenster schlägt zu. Vor Schreck verschüttet Karin das halbe Glas Wein. Sie blickt nach draußen. Schwarze Wolken ziehen über den Himmel, in der Ferne zucken Blitze. Sie eilt in den Flur, kann ihre Hausschuhe nicht finden, schlüpft in Adrians Schlappen, die ihr viel zu groß sind, und rennt in den Keller. Dort nimmt sie den leeren Korb von der Waschmaschine und öffnet die Tür zum Garten. An der Wäschespinne flattern Hemden und Blusen, die Laken blähen sich im Wind. Eine kurze Treppe führt ins Freie, Karin nimmt zwei Stufen auf einmal, den Korb umarmt sie wie ein dickes Kind. Auf dem obersten Tritt rutscht der linke Fuß aus der Schlappe. Sie fällt rückwärts. Den Korb lässt sie nicht los.

      Das Wohnzimmer ist in helles Licht getaucht. Karin sitzt am Esstisch und blickt auf die Umzugskartons, die noch immer in der Ecke stehen. Für einen Moment schließt sie die Augen und hält das Gesicht in die wärmende Sonne. Dann rückt sie den Stuhl zurecht und löst den Deckel vom Leuchtstift. Neben dem aufgeklappten Laptop liegt ein Stapel Kopien.

      Wie lange musst du arbeiten?, fragt Adrian. Er steht im Flur, den Wäschekorb in den Händen.

      Sicher den ganzen Morgen.

      Es ist dein freier Tag, sagt er und nach einer Pause: Darfst du die Unterlagen überhaupt heimnehmen?

      Das sind Fachartikel. Wäre es dir lieber, wenn ich in die Klinik fahre?

      So habe ich das nicht gemeint.

      Karin steckt die Kappe auf den Leuchtstift. Ich auch nicht.

      Adrian nickt. Hast du noch etwas, das in die Wäsche kommt?

      Nein.

      Das Shirt, das du gerade trägst, vielleicht? Er stellt den Korb hin und bewegt den Zeigefinger auf und ab. Die Hose?

      Sie lacht, dann merkt sie, dass er es ernst meint. Ich habe wirklich viel zu tun, sagt sie.

      Klar. Er öffnet die Tür und schiebt den Korb mit dem Fuß ins Treppenhaus. Sehr geehrte Damen und Herren, sagt er, die frivole Einweihung unserer Wohnung ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Wir bitten um Geduld und wünschen einen schönen Tag.

      Karin beobachtet, wie sich die Tür langsam schließt. Dass er immer alles ins Lächerliche ziehen muss!

      Benommen kriecht Karin die Treppe hoch. Sie hebt den Kopf. Vor ihr im Gras steht ein Einkaufstrolley und daneben eine Frau. Sie trägt einen roten Rock, einen abgewetzten Kittel und hat silbern schimmernde Kopfhörer aufgesetzt.

      Ich bin hingefallen, ruft Karin. Können Sie mir helfen?

      Die Frau nimmt die Kopfhörer ab. Die sind toll, sagt sie. Da hörst du nur die Musik und sonst nichts. Wird alles herausgefiltert.

      Ich bin gefallen, wiederholt Karin. Die Treppe runter.

      Ja. Die Frau zieht zwei Bierbüchsen aus der Tasche. Sie ist füllig, ihre grauen Haare stehen in alle Richtungen ab. Trinkst du was mit mir?, fragt sie.

      Karin schüttelt den Kopf. Mit den Fingern gleitet sie über ihren Schädel, tastet nach einer Wunde, findet aber keine. Das Schwindelgefühl wird schwächer.

      Ich muss die Wäsche abhängen.

      Wozu die Eile?, fragt die Frau und blickt zum Himmel. Das Gewitter ist vorübergezogen, die Bettlaken hängen schlaff im milden Licht der Abendsonne. Die Frau hat recht, die Wäsche kann warten. Karin richtet sich auf, streckt die Hand aus und nimmt die Büchse entgegen. Sie ist kalt, winzige Wassertropfen haften am Aluminium. Wohnen Sie hier?, fragt sie.

      Die Frau zeigt mit dem Kopf zum Nachbarhaus. Du bist Ärztin?

      Hat sich das bereits herumgesprochen?

      Und wie ist es so?

      Was?

      Eine Ärztin zu sein.

      Adrian hat sich umgezogen. Er stellt eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser neben den Laptop und setzt sich zu ihr.

      Sie bedankt sich, streicht über seinen Arm und greift nach der Tasse.

      Er legt sein Smartphone auf den Tisch, klopft mit den Fingern darauf herum und hüstelt. Er sieht Karin nicht an. Ich habe Simon angerufen, sagt er. Wir gehen was essen und danach – wir wissen es noch nicht. Ist das in Ordnung für dich?

      Muss es wohl. Sie zieht die Beine an, blickt auf ihre nackten Füße, nippt am Kaffee. Ich dachte, wir verbringen den Nachmittag zusammen.

      Das dachte ich auch. Er legt die Hand auf den Stapel Papier. Die erste Ladung Wäsche sei fertig, sagt er und fragt, ob Karin den Rest übernehmen könne.

      Echt jetzt?

      Wenn du eh zu Hause bist, sagt er in einem Ton, den sie kaum ertragen kann. Er beugt sich zu ihr und gibt ihr mit gespitzten Lippen einen Kuss. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Ich respektiere das. Aber mir fällt die Decke auf den Kopf. Er steht auf und steckt das Smartphone ein. Am Abend bin ich wieder zurück.

      Die Frau scheint nett zu sein, ihre Neugier aufrichtig.

      Wie es ist, Ärztin zu sein? Auf alle Fälle verändert es den Blick, sagt Karin, so wie immer, wenn sie auf ihren Beruf angesprochen wird. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und fragt: Was ist das wichtigste Organ des Menschen?

      Die Frau schüttelt den Kopf.

      Die Haut. Stellen Sie sich vor, wir hätten keine. Was für ein Anblick! Blut und Schleim und Fleisch. Mit so etwas will man sich nicht paaren, oder? Ohne Hülle gäbe es keine Schönheit des Menschen, keine Anmut und Pracht.

      Die Frau nickt ohne Anflug eines Lächelns. Dann zeigt sie auf die Gartenstühle vor der Hauswand und legt die Hand auf Karins Arm. Setzen wir uns, sagt sie.

      Karin steht vor der Waschmaschine, die Bedienungsanleitung in der Hand. Im Keller ist es kühl, ihr fröstelt. Sie stellt die Temperatur auf vierzig Grad, stopft Kleider und Laken in die Trommel. Wie Adrian das Smartphone auf den Tisch gelegt hat! Die kunstvollen Pausen zwischen den Sätzen. Die ruhige Stimme, kein Riss in der Fassade.

      Später hängt sie die Wäsche auf. Die Julisonne brennt auf ihren

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