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Einführung in die philosophische Ethik. Dietmar Hübner
Читать онлайн.Название Einführung in die philosophische Ethik
Год выпуска 0
isbn 9783846356616
Автор произведения Dietmar Hübner
Жанр Философия
Издательство Bookwire
Häufiger beim Adjektiv ›moralisch‹ ist allerdings die wertende Verwendung: Meistens wird es gebraucht im Sinne von ›aus Sicht der Moral der sprechenden Person richtig‹. Als moralisch bezeichnet man somit gemeinhin Verhaltensweisen, Charaktere, Entscheidungen, Zustände etc., die einem Normensystem korrespondieren, welches man selbst befürwortet, und die man entsprechend billigt, indem man sie mit diesem Wort belegt. Den Gegensatz hierzu bildet das Adjektiv ›unmoralisch‹: Es benennt Motive, Handlungen oder Folgen, die man als sittlich böse, verboten bzw. schlecht kennzeichnen will. In diesem Sinne könnte man etwa sagen: ›Dass Peter Pazifisten ablehnt, ist ein unmoralischer Standpunkt. Ein moralischer Standpunkt würde nahelegen, eine andere Haltung gegenüber Pazifisten einzunehmen.‹
Es ist somit durchaus sinnvoll zu sagen: ›Die Moral der Mafia ist höchst unmoralisch.‹ Denn mit ›Moral‹ bezeichnet man allein die Tatsache, dass bestimmte Menschen einem gewissen Normensystem folgen, während man erst durch ›unmoralisch‹ die Beurteilung hinzufügt, was man selbst von diesem Normensystem hält. Es ist sogar möglich zu sagen: ›Peters moralische Ansichten sind sehr unmoralische Ansichten.‹ Hier wird ›moralisch‹ wertfrei verwendet, um Peters Überzeugungen ihrer Art nach zu kennzeichnen, ›unmoralisch‹ hingegen wertend, um Peters Überzeugungen in ihrem Gehalt zu kritisieren.
(2) Moralen regeln menschliches Verhalten, und zwar in einem weiten Sinne, in all seinen Komponenten. Sie können spezielle Motivationen oder allgemeine Charaktere bewerten. Sie können einzelne Akte oder wiederholte Vollzüge erfassen. Sie können direkte Konsequenzen oder entferntere Wirkungen beurteilen.
Oftmals befassen sich Moralen mit äußerem Verhalten, von dem andere Personen betroffen sind als der Handelnde selbst. Dabei kann diese Betroffenheit sehr konkreter Art sein, als physische oder psychische Beförderung oder Beeinträchtigung. Sie kann aber auch eher abstrakter Natur sein, als expressive oder kommunikative Anerkennung oder Ausnutzung. Einige Moralen wählen indessen einen noch weiteren Objektbereich. Manche machen nicht nur äußeres Verhalten, sondern etwa auch bloße Gedanken oder Gefühle zu ihrem Gegenstand. Beispielsweise lehnen sie Hass oder Missgunst ab, auch wenn diese sich überhaupt nicht in greifbaren Aktionen niederschlagen. Andere Moralen kennen nicht allein Pflichten gegen andere, sondern auch Pflichten gegen sich selbst. Sie schreiben etwa die Steigerung des eigenen Wohls oder die Entwicklung eigener Talente vor, auch ohne dass sich hieraus Effekte für andere ergeben müssten.
Was Moralen definitiv nicht erfassen, sind Naturereignisse: Ein Vulkanausbruch oder eine Sturmflut mögen schlimm und bedauerlich sein. Aber sie sind nicht böse oder verwerflich. Böse oder verwerflich können sich erst Menschen in solchen Situationen verhalten, etwa wenn sie einander nicht warnen oder sich nicht gegenseitig helfen.
Ebenso fällt das Verhalten von Tieren nicht in den Bereich von Moralen: Selbst wenn Tiere teilweise beachtliche Problemlösungsfähigkeiten oder beeindruckendes Sozialverhalten aufweisen, kann man ihnen nicht sinnvoll Vorwürfe machen oder sie zur Rechenschaft ziehen. Sie werden gelegentlich erzogen, und dies zuweilen aus moralischen Gründen, etwa um Schädigungen von Menschen zu verhindern. Aber sie werden nicht belangt, im Namen der Moral, als könnte man sie ihrerseits unter moralischen Anspruch stellen.
Menschliches Verhalten gegenüber der Natur oder gegenüber Tieren kann freilich sehr wohl Gegenstand der Moral sein: Der Mensch mag der einzige Moraladressat, das einzige Moralsubjekt sein, aber er ist nicht unbedingt der einzige Moralgegenstand, das einzige Moralobjekt. Wahrscheinlich wird man dem Menschen, als einem vernünftigen und insbesondere moralfähigen Wesen, seinerseits besondere moralische Rechte einräumen. Aber andere Entitäten, als wohlgeordnete, lebendige oder empfindungsfähige Wesenheiten, könnten ebenfalls eine geeignete moralische Berücksichtigung erfordern.
Hinzu kommt, dass dieser besondere Status des Menschen nicht notwendig, sondern allein kontingent ist: Jedes Wesen, das moralische Forderungen als solche verstehen und ihnen in autonomer Selbstbestimmung folgen kann, ist ein moralisches Subjekt. Nach derzeitigem Kenntnisstand trifft dies von allen bekannten Entitäten allein auf Menschen zu. Aber wenn sich herausstellen sollte, dass andere Wesen die entsprechenden Fähigkeiten ebenfalls aufweisen, wären sie ebenso dem Kreis der Moralsubjekte zuzurechnen, mit allen Rechten und Pflichten, die dies mit sich bringen mag.
(3) Der Anspruch auf unbedingte Gültigkeit, mit dem Moralen einhergehen, besagt im Wesentlichen, dass sie sich in ihren Forderungen nicht von momentanen Zielsetzungen der betrachteten Person abhängig machen: Moralische Forderungen richten sich nicht danach, was man gegenwärtig wünscht, anstrebt, sich vornimmt oder angenehm findet. Moralische Forderungen treten der betrachteten Person mit dem Gestus des Unabweislichen entgegen: Man kann ihnen nicht entgehen, indem man erklärt, gewisse Pläne zur Zeit nicht verfolgen zu wollen.
Zwar kann es sein, dass eine Moral nur in einem bestimmten Lebensbereich relevant wird: Fürsorgepflichten für die eigenen Kinder etwa sind offenbar nur dann einschlägig, wenn man tatsächlich Vater oder Mutter ist (es gibt auch Hilfspflichten gegenüber fremden Kindern, doch sind diese von ganz anderer Art und haben ganz andere Inhalte). Aber sobald man einen solchen Lebensbereich einmal betreten hat, kann man die entsprechenden moralischen Forderungen nicht mehr abschütteln: Wenn man Vater bzw. Mutter ist, hat man bestimmte Verpflichtungen, denen man sich nicht ohne Weiteres entziehen kann (man kann sie bei völliger Überlastung abtreten, doch ist man dann zumindest zu gewissen Schritten verpflichtet, etwa eine ordentliche Adoption einzuleiten).
Dieser Unbedingtheitscharakter der Moral liegt insbesondere Kants berühmter Feststellung zugrunde, dass sich Moral nicht in hypothetischen Imperativen zum Ausdruck bringt, sondern in kategorischen Imperativen. Hypothetische Imperative sind solche, die abhängig von den Zielsetzungen des Handelnden sind. Sie haben die Form: ›Wenn du X willst, musst du Y tun‹ – wenn nicht, dann nicht. Kategorische Imperative hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unabhängig von den Zielsetzungen des Handelnden gelten. Sie haben die Gestalt: ›Du sollst Y tun‹ – ohne Wenn und Aber. Genau hierin tut sich der apodiktische Forderungscharakter von Moralen kund [KANT, GMS, AA 414–417].
Dieser Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen muss nicht unmittelbar sprachlich erkennbar sein: Die Aufforderung ›Steigere deinen Umsatz!‹ ist sicherlich hypothetischer Art, obwohl die Bedingung nicht explizit genannt wird. Offenbar ist sie nur dann gültig, wenn man seine geschäftliche Situation verbessern will. Auch der Ratschlag ›Verdirb es dir nicht mit deinen Freunden!‹ dürfte hypothetisch intendiert sein. Ersichtlich setzt er voraus, dass der Angesprochene kein unglücklicher Einzelgänger werden will. Hingegen ist die Aufforderung ›Wenn du Familie hast, sorge für sie!‹ gewiss kategorischer Natur, obgleich hier eine Bedingung auftaucht. Denn diese benennt keinen Vorsatz, den man auch ablegen könnte, sondern eine Situation, in der man sich befindet und in der die fragliche Norm unbedingt gilt. Ebenso ist das Gebot ›Wenn du dich nicht versündigen willst, töte keinen Unschuldigen!‹ kategorisch gemeint. Denn auch hier bezeichnet der Wenn-Satz kein beliebiges Bestreben, von dem man sich ebenso gut frei machen könnte, sondern betont lediglich noch einmal, dass es um eine höchst moralische Frage geht.
Zudem können hypothetische und kategorische Normen vielfältig miteinander verkettet sein: ›Steigere deinen Umsatz!‹ ist, wie gesehen, zunächst ein hypothetischer Imperativ. Er ist nur gültig, sofern man seine Geschäfte verbessern will. Eben dies kann sich freilich als notwendiges Mittel erweisen, um seine Familie zu ernähren, gemäß der Vorschrift ›Wenn du Familie hast, sorge für sie!‹. Aufgrund dieser pragmatischen Verknüpfung könnte hinter der empfohlenen Umsatzsteigerung letztlich doch ein kategorischer Imperativ stehen.
Bei alledem geht es zunächst allein darum, dass Moralen solche Unbedingtheitsansprüche tatsächlich erheben. Es ist noch nicht die Rede davon, ob sie dies auch berechtigt tun. Dass ein Sprecher ein Verhalten als moralisch oder unmoralisch bezeichnet, lässt offen, ob er damit recht hat oder nicht. Es ist diese Frage, mit der sich nicht zuletzt die Ethik befasst, zumindest in einigen ihrer Bereiche.