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Einführung Ernährungspsychologie. Johann Christoph Klotter
Читать онлайн.Название Einführung Ernährungspsychologie
Год выпуска 0
isbn 9783846347904
Автор произведения Johann Christoph Klotter
Жанр Документальная литература
Серия PsychoMed compact
Издательство Bookwire
Beim Blick auf die Geschichte wird ebenfalls klar, dass Lebensmittelpräferenzen – unabhängig der genannten beiden Ernährungstraditionen – starken gesellschaftlich-kulturellen Einflüssen unterliegen. Warum verbietet die eine Kultur den Genuss von Katzen und die andere nicht? Wie ist es zu erklären, dass die Kartoffel in unserer Kultur lange verpönt war, sich dies aber dann änderte?
Essen und Macht
Nahrungsaufnahme ist nicht nur Physiologie, ist nicht nur Psychologie, sie ist auch mit gesellschaftlicher Macht verwoben. Durch fast die gesamte Geschichte hindurch wird z. B. mit Festgelagen oder mit dem Verspeisen von luxuriösen Lebensmitteln gezeigt, in welchen Händen die gesellschaftliche Macht liegt. Die Nahrungsaufnahme ist ein Indikator dafür, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe eine Person gehört. Mit ihrer Hilfe grenzt sich die eine gesellschaftliche Gruppe von der anderen ab. Vielleicht mag eine Person, die heute lebt, kein japanisches Essen. Da es aber „in“ ist, muss sie es sozusagen essen und vielleicht sogar auch noch gut finden. Damit teilt diese Person mit, dass sie zur gesellschaftlichen Elite gehören will.
Essstörung und Kultur
Eine bestimmte Kultur determiniert nicht nur das Essverhalten. Sie nimmt auch Einfluss darauf, was als Essstörung gilt und was nicht. Im spätantiken Rom wurde bei einem Gelage, um möglichst viel essen zu können, zwischenzeitlich das Vomitorium aufgesucht, in dem man sich durch Erbrechen erleichtern konnte. Die Römer haben dies aber nicht als Krankheit begriffen. Wir tun dies hingegen.
Nach den gesellschaftlich-kulturellen werden die sozialen Determinanten vorgestellt. Zu Kultur und Sozialem gibt es zahlreiche und unterschiedliche Definitionen. Hier soll eine einfache Unterscheidung getroffen werden. In Abgrenzung zu den kulturellen Faktoren, die im Prinzip eine ganze Gesellschaft in einer bestimmten Epoche betreffen, werden mit sozialen Faktoren Determinanten gemeint, die die Binnenstruktur einer Gesellschaft bestimmen. Es geht hierbei auch um die Unterschiede in einer Gesellschaft, um z.B. unterschiedliche soziale Schichten. Die Frage nach den sozialen Faktoren stellt sich also, weil eine Gesellschaft nicht homogen ist. Auch die Lebensbedingungen unterscheiden sich in einer Gesellschaft gravierend. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ernähren sich ebenfalls unterschiedlich – und das nicht unbedingt aus freien Stücken, sondern häufig auch aus ökonomischer Not.
Zunächst soll betrachtet werden, welchen Einfluss die soziale Lage grundsätzlich auf die Gesundheit hat. Anschließend ist zu erörtern, wie speziell die soziale Lage die Ernährung beeinflusst. Des Weiteren ist zu fragen, welche unterschiedlichen Sozialisationstypen zu möglicherweise unterschiedlichen Typen von Ernährungsverhalten führen. Das Kapitel soll abgeschlossen werden mit allgemeinen, eine ganze Gesellschaft betreffenden, soziologischen Modellen zum Ernährungsverhalten. Diese Modelle befassen sich mit dem Thema, welche sozialen Funktionen die Ernährung und das Essen haben.
1.1 Schlaraffenland
der Hunger der Vorfahren
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Personen mit einem geringeren sozioökonomischen Status höhere Morbiditäts- und Mortalitätsraten aufweisen. Gesundheit ist also deutlich mit sozialer Ungleichheit verbunden (Mielck 2000, 2012; Helmert 2003; Kroll 2010). In einer historischen Perspektive relativiert sich diese Ungleichheit dahingehend, dass es uns allen vor dem Hintergrund der Menschheitsgeschichte erstaunlich gut geht. Menschen, die z. B. vor 15.000 Jahren gelebt haben, hätten unsere Lebenssituation als Schlaraffenland gepriesen. Diese Menschen, die mitunter tagaus tagein auf der Suche nach Nahrung waren und immer wieder mehr schlecht als recht überlebten und häufig von Hungersnöten – aber auch permanent von Raubtieren – bedroht waren, diese Menschen hätten sich vermutlich nichts sehnlicher gewünscht, als vom Staat monatlich eine bestimmte Summe an Geld zu bekommen, mit der man ohne weiteres überleben kann.
höhere Lebenserwartung
Vielleicht hätten uns unsere Vorfahren auch um unsere Lebenserwartung beneidet. Diese lebten im Schnitt nur ca. 30 Jahre lang. Unsere Lebenserwartung dagegen ist auch aufgrund der sehr guten Lebensmittelversorgung stetig steigend. Kinder, die heute geboren werden, haben sehr gute Chancen, 90 bis 100 Jahre alt zu werden.
Schlaraffenland bedeutet auch, dass wir heute nicht tagaus tagein ausschließlich mit der Nahrungssuche beschäftigt sind. Unsere Vorfahren hatten vielfach zu nichts anderem Zeit, als sich Nahrung zu beschaffen. Heute hingegen arbeiten wir etwa acht Stunden pro Tag und geben keineswegs alles Geld nur für das Essen aus: Es reichen heute in der Bundesrepublik ca. 13 % des Durchschnittseinkommens aus, um die Ernährung sicherzustellen. Vor 40 Jahren mussten die Deutschen noch 30 % in die Ernährung investieren.
vergiftetes Paradies
Das menschliche Gedächtnis eignet sich eventuell nicht dazu, sich zu vergegenwärtigen, dass es uns heute in Europa, was die Nahrungsversorgung betrifft, ganz ungewöhnlich gut geht. Im Ge -genteil: Das Schlaraffenland begünstigt offenbar Vergiftungsfantasien. Bestseller wie „Iss und stirb“ (Kapfelsperger/Pollmer 1982) greifen diese Fantasien auf und füttern sie. Mit diesen Fantasien verleugnen wir möglicherweise kollektiv, wie gut es uns eigentlich geht. Vielleicht haben wir auch gegenüber den Menschen ein schlechtes Gewissen, die in den Entwicklungsländern unter der Armutsgrenze leben und hungern oder verhungern. Wenn wir dann annehmen, die Qualität unserer Lebensmittel sei nicht gut, dann wähnen wir uns quasi selbst in einem Entwicklungsland.
1.2 Zwei Ernährungstraditionen: die mediterrane und die „barbarische“
Maß oder Maßlosigkeit
Die ersten Menschen lebten ungefähr vor zwei Millionen Jahren. Vor 300.000 Jahren begannen Menschen damit, das Feuer bei der Nahrungszubereitung zu nutzen. Aber erst vor 150.000 Jahren gelang es den Menschen, systematisch das Feuer selbst herzustellen (Hirschfelder 2001). Um 10.000 v. Chr. begann das agrarische Zeitalter und damit eine im Prinzip bessere Absicherung menschlichen Überlebens. Damit verbunden war eine eher vegetarische Ernährung. Diese war vor allem ein Merkmal für die griechische und römische Antike. Der durch seine Kargheit und geringe Ergiebigkeit gekennzeichnete mediterrane Raum erlaubte keine umfangreiche Produktion von Fleisch. Aber gerade durch die Schwierigkeit, im Mittelmeerraum zu überleben, entstanden Hochkulturen, die sich u. a. in einer ausgeprägten Kunstfertigkeit in Naturbeherrschung äußerten. Korn, Wein und Ölbäume sind die Leitpflanzen dieser Kultur. Von den Körnern wiederum ist der Weizen die typische Kulturpflanze des mediterranen Raumes.
Die von Griechen und Römern als Barbaren bezeichneten Kelten und Germanen dagegen nutzten die unberührte Natur und jagten und sammelten dort, was sie zum Leben brauchten. Die Figuren aus „Asterix und Obelix“ legen hiervon Zeugnis ab. Die „Barbaren“ haben keine typische Kulturpflanze, stattdessen aber ein typisches Tier: das Schwein. Steht die griechisch-römische Antike unter dem ethischen Gebot der Mäßigung, das die Nahrungsaufnahme mit einschließt, so dominiert bei den „Barbaren“ die gegenteilige Vorstellung: Ein wahrer Mann zeichne sich darüber aus, dass er so viel wie möglich an Fleisch und Alkohol zu sich nehmen könne.
„Eine tiefe Kluft trennte die ‚römische‘ Welt von der ‚barbarischen‘ . . . und tatsächlich müssen wir eingestehen, daß zwei Jahrtausende gemeinsamer Geschichte nicht ausgereicht haben, ihre Spuren zu beseitigen.“ (Montanari 1993, 22)
Diese Feststellung von Montanari besitzt noch immer ihre Gültigkeit. Dies lässt sich daran erkennen, dass z. B. die Deutsche Gesellschaft für Ernährung die mediterrane Kost als ideale Nahrungsform begreift und mit diesem Ideal gegen die maßlose und fleischorientierte „barbarische“ Kostform zu Felde zieht. Das bedeutet auch, dass wir heutzutage noch immer im Konfliktfeld dieser beiden Kostformen leben.
In einer prototypischen Familie mag es noch immer vorkommen, dass der Vater auf dem täglichen Fleischgericht besteht. Für ihn ist dies Ausdruck von Wohlstand und Sozialprestige. Die Tochter giftet ihn mit ökologischen Argumenten an und ernährt sich vegetarisch.