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gewaltigen Umbruch, der sich zu jener Zeit in der Medizin vollzog und dessen Augenzeuge er geworden war. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die naturwissenschaftliche Medizin, wie sie von Rudolf Virchow (1821–1902), Johannes Müller (1801–1858), Hermann von Helmholtz (1821–1894) und anderen praktiziert und propagiert wurde, auf dem besten Wege, der bislang in Deutschland vorherrschenden naturphilosophischen Schule den Rang abzulaufen. Auf der 35. Versammlung in Königsberg (1860) ergriff Virchow, der Begründer der Zellularpathologie, erstmals das Wort und sprach als selbstbewusster, in die Zukunft blickender Arzt und Naturforscher über ein Thema, das so ganz nach seinem Geschmack war, nämlich „über den Fortschritt in der Entwicklung der Humanitätsanstalten“ (Schipperges, 1968, S. 50). Der Fortschrittskult, dem auf den Versammlungen dieser illustren wissenschaftlichen Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten ausgiebig gehuldigt wurde, erreichte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt.

      Wie sehr die Medizingeschichte und die naturwissenschaftliche Medizin damals weltanschaulich konform gingen, zeigt sich beispielsweise in der medizinhistorischen Vorlesung, die Carl August Wunderlich (1815–1877) in Leipzig hielt und die 1859 im Druck erschien. Darin klingt bereits an, was wir auch bei den medizinischen Koryphäen dieser Zeit, wie z. B. bei dem bereits erwähnten Rudolf Virchow, zur gleichen Zeit oder wenig später ähnlich formuliert finden. Nach Wunderlich ist die „Geschichte der medicinischen Wissenschaft“ nicht mehr, aber auch nicht weniger als „die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes, dessen eingeborener Trieb nach Wahrheit sich nach allen Richtungen geltend macht […]“ (Wunderlich, 1859, S. 2). Etwas vorsichtiger drückt sich der Medizinhistoriker Johann Hermann Baas (1838–1909) in seinem Leitfaden der Geschichte der Medicin (Stuttgart 1880) aus. Dort heißt es in der Einleitung: „Beobachten wir nun die geistige Entwicklung der Menschheit unter [<<27] Führung der Culturgeschichte, so liefert sie den erhebenden Erfahrungsbeweis, dass jene, wenn auch nur zum ganz allmähligen Fortschreiten, wobei langer Stillstand und zeitweiliger Rückgang stets als die für künftige neue Fruchtbildung nöthigen Ausruhezeiten des vorhandenen oder zur Vorbereitung eines neuen Culturbodens erscheinen, zum Wachstum an Wissenschaft, Können und Erkenntnis berufen ist“ (Baas, 1880, S. 2). Baas ist zudem der erste Medizinhistoriker im eigentlichen Sinne, der die neuesten Errungenschaften der modernen, naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin gelegentlich durchaus skeptisch betrachtete, wie ein Beispiel aus seinem 1876 erschienenen medizinhistorischen Überblickswerk zu zeigen vermag. Im Abschnitt über die Erfindung und den Einsatz des Mikroskops in der Medizin wird die ältere medizinhistorische Arbeit von Metzger aus dem Jahre 1792 zustimmend zitiert, in der von dem „zweideutig[en] Nutzen“ in Bezug auf die „grossen Hülfsmittel der Fortschritte in der Anatomie“ (Baas, 1876, S. 383) die Rede ist.

      Die großen medizinhistorischen Standardwerke des frühen 20. Jahrhunderts sehen in der Medizingeschichte ähnlich wie in der Kulturgeschichte „ein Hinauswachsen über die tierische Organisation durch Steigerung oder Entlastung ihrer Leistungen“ (Neuburger, 1906, I, S. 1) und verwenden damit ebenfalls implizit den Fortschrittsbegriff. Julius Pagel (1851–1912), neben Max Neuburger (1868–1955) einer der Väter der modernen Medizingeschichtsschreibung, bezeichnete die Medizin seiner Zeit als „Ergebnis einer, nicht zu hoch gegriffen, mehrtausendjährigen Geistesthätigkeit, das Resultat einer in unaufhaltsamer Entwickelung fortschreitenden geistigen Arbeit“ (Pagel, 1898, S. 1). Auch die beiden Medizinhistoriker Theodor Meyer-Steineg (1873–1936) und Karl Sudhoff (1853–1938), die zusammen eine medizinhistorische Überblicksdarstellung verfassten, bezweckten damit, einen „zuverlässigen Einblick in die fortschreitende Entwicklung ihrer Wissenschaft und deren praktischer Betätigung“ (Meyer-Steineg/Sudhoff, 1922, S. III) zu geben.

      Die genannten Autoren stehen also ausnahmslos in der Tradition der fortschrittsgläubigen Medizingeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, obgleich sie den Begriff ‚Fortschritt‘ häufig nur im Plural verwenden und auf explizite geschichtsphilosophische Bekenntnisse jedweder Art verzichten. Denn bis weit in die 1920er Jahre, als Wissenschaft und Technik sich weiter ungestüm entfalteten, war auch für die wenigen Medizinhistoriker, die es damals an deutschen Universitäten gab, der medizinische Fortschritt als stetige Aufwärtsentwicklung eine erwiesene und unangefochtene Tatsache. Diesem Umstand trug man selbstverständlich in den Überblicksdarstellungen zur Geschichte der eigenen Disziplin Rechnung, und er bedurfte nicht vieler erklärender Worte.

      Erste größere Risse erhielt dieses Weltbild in der Diskussion um die sogenannte „Krise in der Medizin“ (Klasen, 1984), die gegen Ende der Weimarer Republik einsetzte [<<28] und das Vertrauen vieler Mediziner in die naturwissenschaftliche Medizin und ihre stetigen Fortschritte nachhaltig erschütterte. Im Mittelpunkt der in zahlreichen Fachpublikationen ausgetragenen Debatte um Krisenerscheinungen in der zeitgenössischen Medizin stand zweifellos das naturwissenschaftliche Paradigma der sogenannten „Schulmedizin“ und damit auch der diesem immanente Fortschrittsglaube. Es ist bezeichnend, dass sich unter den Ärzten, die damals als Wortführer in der Diskussion um die „Krise der Medizin“ in Erscheinung traten, ebenfalls ein Vertreter des Faches „Medizingeschichte“ befand, nämlich der Internist und spätere Lehrstuhlinhaber für Geschichte der Medizin an der Universität Gießen Georg Honigmann (1863–1930). Er veröffentlichte 1925 in der Münchner Medizinischen Wochenschrift eine Artikelserie über die „Hauptperioden der geschichtlichen Entwicklung“, die im gleichen Jahr noch in Buchform erschien. Dort heißt in dem Kapitel, das sich mit den Errungenschaften der modernen Medizin (Bakteriologie, Chemotherapie, Chirurgie) befasst: „Blicken wir noch einmal angesichts dieser nur die wichtigsten Entwicklungszeichen skizzierenden Darstellung auf das Gesamtbild der Epoche zurück, auf der sich nun die Heilkunde unserer Tage aufbaut. Wir sehen unter dem Hochdruck materialistischer und mechanistischer Weltanschauung und Methodik eine Fülle tatsächlicher Befunde angehäuft, die die Leistungsfähigkeit dieser Denk- und Arbeitseinstellung glänzend dartun, auf der anderen Seite aber auch gewisse Zeichen ihrer Dämmerung, des beginnenden Verfalls ihrer Herrschaft“ (Honigmann, 1925, S. 108). Hier deutet sich bereits ein Meinungswandel an, und zwar insofern, als in der Geschichte der Medizin nicht mehr unbedingt eine geradlinige Entwicklung vom Primitiven zum Höherstehenden gesehen wird. Im Gegenteil: Der zeitgenössischen, einseitig naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin wird von Honigmann und anderen der historische Spiegel vorgehalten.

      Der entscheidende epistemologische Bruch in der Medizingeschichtsschreibung trat aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, als der Nürnberger Ärzteprozess den bis dahin noch vorherrschenden Fortschrittsglauben stark erschütterte und vielen Ärzten und Medizinhistorikern klarmachte, dass das frühere Idealbild von einem unaufhörlichen, wissenschaftlichen, sozialen und ethischen Fortschritt sich nicht hat verwirklichen lassen und wohl immer ein Wunschtraum bleiben würde. Von dieser Einsicht ist allerdings in den beiden ersten medizinhistorischen Überblicksdarstellungen, die nach 1945 in Deutschland erschienen, noch nichts zu spüren. Paul Diepgen (1878–1966) konstatiert in seinem medizinhistorischen Standardwerk in den verschiedensten Epochen (z. B. Barock) durchaus „Fortschritte der praktischen Medizin“ und spricht sogar in Hinblick auf sein eigenes Metier von „große[n] Fortschritte[n]“ (Diepgen, 1949, I, S. 9), die durch die Erschließung neuer Quellen und durch zahlreiche [<<29] Einzelstudien erzielt worden seien. In der ein Jahr zuvor erschienenen Einführung in die Geschichte der Medizin in Einzeldarstellungen von Rudolf Creutz (1866–1949) und Johannes Steudel (1901–1973) wird die Geschichte der Medizin ebenfalls noch als „von Jahrhundert zu Jahrhundert fortschreitend“ (Creutz/Steudel, 1948, S. 7) mit knappen Strichen skizziert.

      Ein ähnliches Bild bietet die angloamerikanische Medizingeschichtsschreibung in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch in der zweiten Auflage des Standardwerks von Charles Singer (1876–1960) und Edgar Ashworth Underwood (1899–1980) betonen die Autoren, dass es ihnen im Wesentlichen darum gehe, die Fortschritte der Medizin durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen (Singer/Underwood, 1962, S. 742). Auch die einflussreiche Darstellung von Richard Shryock (1893–1972) (The development of modern medicine: an interpretation of the social and scientific factors involved, 1936), die 1940 und in 2. Auflage wieder 1947 sogar in deutscher Übersetzung erscheinen konnte 1980 noch einmal in Amerika nachgedruckt wurde, kommt zu dem Schluss, dass der „Fortschritt der Wissenschaft durch die zunehmende Verwendung von Messungen und anderen quantitativen Methoden gefördert wurde“ (Shryock, 1940, S. VII). Die deutsche Ausgabe (1940) hat wohl nur

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