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Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik. Barbara Fornefeld
Читать онлайн.Название Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik
Год выпуска 0
isbn 9783846387757
Автор произведения Barbara Fornefeld
Жанр Документальная литература
Серия Basiswissen der Sonder- und Heilpädagogik
Издательство Bookwire
In der Zeit des Aufbaus des Hilfsschulwesens, der in der Sowjetischen Besatzungszone 1946 mit dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Demokratisierung der deutschen Schule“ und in den westlichen Besatzungszonen 1948 mit dem Hinweis der „Deutschen Erziehungsminister“ auf die schwierige Situation der Schul-kinder begann, versuchte man zunächst an die Tradition der Heilpädagogik während der Weimarer Republik, d.h. an das Bildungs- und Versorgungssystem, wie es vor 1933 bestand, anzuknüpfen. Dabei fand eine „Tabuisierung des ‚Dritten Reiches‘“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 294) statt. Während man im Westen die eigene Geschichte weitgehend verdrängte, grenzte man sich im Osten von ihr bewusst ab, um hierdurch die sozialistische Staatsideologie legitimieren zu können. Viele der in der NS-Zeit in den Einrichtungen tätigen Heilpädagogen nahmen ihre Arbeit in Anstalten, Hilfsschulen oder in den Verwaltungen wieder auf, ohne Verantwortung für ihr Handeln und das Geschehene zu übernehmen. Man wollte auch nicht die heute offensichtlichen Schwächen einer Sonderpädagogik der Vorkriegszeit sehen, die von einer Vorstellung ausging, dass „Heilerziehung ausschließlich die Fortsetzung ärztlicher Behandlung mit anderen Mitteln“ (Möckel 2007, 207) sei. Man musste erst zu einer Neubewertung von geistiger Behinderung und zu neuen humanen Werten gelangen, um die Ansprüche von Menschen mit geistiger Behinderung wahrnehmen und ihr Bildungsrecht durchsetzen zu können.
In der Bundesrepublik (BRD) geschah dies erst in den 1970er Jahren und nach Vorbildern aus den skandinavischen Ländern und den Vereinigten Staaten, wo neue Formen der Normalisation der Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung sowie deren Integration realisiert wurden. Einen weiteren, wenn auch nicht direkten Einfluss hatte die von der Studentenrevolte 1968 angestoßene Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008, 304). Durch deren Forderung, auch unterprivilegierten Kindern mehr Bildungschancen zu bieten, gerieten die Folgen der Benachteiligung stärker ins Blickfeld. Man erkannte, dass Beeinträchtigung und Behinderung auch Folge soziale Benachteiligung sein können. Dies führte Mitte der 1970er Jahre zur Abkehr vom ausschließlich medizinischen Verständnis von Behinderung und zur Auflösung des weitgehend statisch-biologischen Begabungsbegriffs. Die Diskussion um die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung setze ein. Diese Entwicklung wurde in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nicht vollzogen. Unter dem Einfluss der Defektologie, wie die Behindertenpädagogik und -psychologie in der Sowjetunion bezeichnet wurde, blieb die Orientierung am medizinischen Modell in den Rechtsvorschriften der DDR bis 1989 weiter bestehen.
Schaut man noch einmal genauer auf die Anfänge der Bildungs- und Versorgungssituation der Menschen mit geistiger Behinderung, so ist die Lage der Sonderschulen nach 1945 im Vergleich zu anderen Bildungseinrichtungen als besonders katastrophal einzuschätzen (Ellger-Rüttgardt 2008, 298). Es fehlte an allem, an Lehrerinnen und Lehrern, an Räumen und an Lehrmaterialien. Die Klassen waren überfüllt. Regelmäßiger Unterricht war kaum möglich. Die Kinder waren oft unterernährt und in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Die Hilfsschulen waren Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen vorbehalten und nahmen das Konzept der Leistungsschule wieder auf. Nur einzelne Schüler mit geistiger Behinderung fanden in den angegliederten Sammelklassen Aufnahme, so z. B. in Berlin, wo 1949 die erste Sammelklasse entstand. In den folgenden zehn Jahren wurden dort 205 Schüler in zehn Klassen unterrichtet (Mühl 1991, 16). Die Bildung von Sammelklassen blieb anfänglich jedoch eher die Ausnahme, da wenig Interesse an der Integration von Schülern mit geistiger Behinderung in die Hilfsschulen bestand. Für die bislang ‚Bildungsunfähigen‘ fand keine schulische Erziehung statt, „beschränkten sich die Ansätze für eine pädagogische Hilfe auf einzelne mehr oder weniger private Initiativen“ (Speck 1979, 69). Diese erstreckten sich im Westen auf hortähnliche Einrichtungen, die auf Anregung von Hilfsschullehrern oder Sozialpädagogen entstanden, über Sammelklassen bis zu Tagesheimschulen.
Ausschluss von Schülern mit geistiger Behinderung in beiden Staaten
Eine systematische Beschulung begann hier aber erst Anfang der 1960er Jahre. Erschwerend kam hinzu, dass das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 weiterhin Gültigkeit besaß und Schüler mit geistiger Behinderung darin für bildungsunfähig erklärt wurden.
In der DDR erfolgte die Ausschulung von Schülern mit geistiger Behinderung auf der Grundlage des Schulgesetzes für Groß-Berlin, „in dem das eingeschränkte Bildungsrecht für Schwerbehinderte in den Punkten 6 und 8 festgeschrieben wurde und in fataler Weise an das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 erinnert“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 314). Auf dieser Grundlage sprach man denjenigen Kindern und Jugendlichen ein Recht auf schulische Erziehung und Bildung ab, die nicht Lesen, Schreiben und Rechnen lernen konnten. Hier heißt es:
„Kinder mit geistigen, körperlichen und sittlichen Ausfallerscheinungen und Schwächen, die aber noch bildungs- und erziehungsfähig sind, werden besonderen Schulen und Heimen zugewiesen (Hilfsschulen, Sonderschulen für Schwererziehbare, Blinde, Taubstumme, Krüppel usw.) […] Bildungsunfähige Kinder und Jugendliche sind von der Schulpflicht befreit“ (Köhlitz 1949, 20f nach Ellger-Rüttgardt 2008, 314).
Eine Befreiung von der Schulpflicht aufgrund von Bildungsunfähigkeit sahen auch die in den 1960er und 1970er Jahren in der BRD erlassenen Gesetze vor. „Das traf Eltern schwer geistig behinderter Kinder. Sie sollten sich allein behelfen, obgleich gerade sie die Hilfe des Staates brauchten“ (Möckel 2007, 233f). Nach diesen einleitenden Bemerkungen zur Einstellung gegenüber Kindern mit geistiger Behinderung in beiden deutschen Staaten soll nun die Entwicklung der Bildungs- und Versorgungssysteme bis 1989 genauer betrachtet werden. Vorab ist zu bemerken, dass Kinder und Jugendliche im Vordergrund standen, schließlich gab es wegen der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen nur noch wenige Erwachsene mit geistiger Behinderung.
2.4.1Entwicklung in der BRD
Gründung der „Lebenshilfe“
Gegen das staatliche Desinteresse wandten sich in den 50er Jahren vor allem in Anstaltsschulen tätige Pädagogen, forderten eine öffentliche Schulbildung für diese Schülergruppe und die Aufhebung der unteren Bildungsgrenze, die sich am bestehenden Hilfsschulsystem und dem Erlernenkönnen von Kulturtechniken orientierte. Doch es erfolgte noch keine Umsetzung dieser Forderung, der Bildungsanspruch dieser Kinder war nicht allgemein anerkannt. Selbst im „Gutachten der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder zur Ordnung des Sonderschulwesens“ von 1960 wird im letzten Abschnitt zwar die Bildbarkeit dieser Kinder bestätigt, „aber diese wird als so gering angesehen, daß der angenommene Personenkreis weder in Schulen noch in Heilpädagogischen Kindergärten gefördert werden kann“ (Speck 1979, 70). Es waren vor allem die Kritik und die Initiative von betroffenen Eltern, die zu einer entscheidenden Veränderung der Bildungssituation für geistig behinderte Kinder führte und den Aufbau eines Bildungs- und Versorgungssystems ermöglichte. Die Intention der Eltern war es, ihre Kinder familiennah versorgt zu wissen und nicht in abgelegene Anstalten abgeben zu müssen. In Anlehnung an Elternvereinigungen, wie sie bereits in England, den Niederlanden oder den USA bestanden, schlossen sich Eltern um die kreative Gründungspersönlichkeit des Niederländers Tom Mutters zusammen und gründeten 1958 in Marburg die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.
„Aufgabe und Zweck des Vereins ist die Förderung aller Maßnahmen und Einrichtungen, die eine wirksame Lebenshilfe für geistig Behinderte aller Altersstufen bedeuten. Dazu gehören z.B. Heilpädagogische Kindergärten, heilpädagogische Sonderklassen der Hilfsschule, Anlernwerkstätten und ‚Beschützende Werkstätten‘“ (§2 der Satzung des Vereins vom 18.1.1959 nach Möckel 1999, 158).
Auf Initiative der „Lebenshilfe“ entstand in den Folgejahren eine Vielzahl von Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit geistiger Behinderung. Die Zahl der Kindergärten für geistig Behinderte stieg im Zeitraum von 1962 bis 1982 von 10 auf 410, die von Schulen bzw. Tagesbildungsstätten im selben Zeitraum von 50 auf 550.
Aufbauphase
In den 1960er Jahren, der