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sich unsere heutige Gesellschaft als moderne Gesellschaft definiert. Was aber heißt modern? Von Modernität sprechen wir immer dann, wenn etwas Altes, Herkömmliches, Überliefertes, Traditionelles, Altgewohntes durch etwas Neues ersetzt worden ist, wenn an ihm ein Akt der Modernisierung vorgenommen worden ist, in dem Bestreben, mit dem Anspruch, die Sache besser zu machen als vorher, einen Fortschritt zu erzielen. Das setzt natürlich voraus, daß man zuvor einen kritischen Blick auf das Alte, Herkömmliche, Überlieferte, Traditionelle, Altgewohnte geworfen

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      hat, einen Blick, dem es sich eben als veraltet, überholt und überholungsbedürftig, als verbesserungsbedürftig darstellt. Nichts kann eine Gesellschaft wie die unsere deutlicher als eine moderne Gesellschaft kennzeichnen, als daß sie alles Alte immer schon unter den Generalverdacht stellt, veraltet zu sein und der Modernisierung zu bedürfen.

      Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung

      So weit, so modernisierungsfreudig, so fortgeschritten und fortschrittsversessen waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts freilich noch nicht. Aber sie haben nach und nach ein Klima geschaffen, in dem es zunächst überhaupt möglich und dann auch üblich wurde, sich kritisch mit Überlieferung und Tradition zu beschäftigen, und in dem so der Weg hin zu Neuem freigemacht wurde, in dem der Begriff modern insofern einen positiven Klang bekam. Aufklärung bedeutet im 18. Jahrhundert zunächst und vor allem: Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung, Emanzipation von der Autorität der Tradition. Das kann man schon äußerlich daran erkennen, daß das Wort „kritisch“ ein Lieblingswort aller Aufklärer gewesen ist.

      Eines der wichtigsten Dokumente der frühen Aufklärung ist der „Dictionnaire historique et critique“ (1697), das Historisch-kritische Lexikon des Franzosen Pierre Bayle (1647 –1706), ein Werk, das im 18. Jahrhundert mehrfach ins Deutsche übersetzt worden ist – unter anderem von Gottsched, unter Beteiligung seiner Frau und des jungen Gellert – und das überall in Europa, oder jedenfalls doch in allen Ländern, die von der Aufklärung erreicht worden sind, zu einem Grundbuch der Bildung geworden ist, ein Werk, das sich im Bücherschrank eines jeden fand, der an der Aufklärungsbewegung teilhatte, bis hin zum Vater von Goethe. Da werden mit der Systematik eines Lexikons die Bestände der kulturgeschichtlichen Überlieferung zunächst historisch gesichtet und sodann kritisch auseinandergenommen: historisch-kritisches Lexikon. Solche Kritik will aufdecken, was an der Tradition bloß schlechte Gewohnheit, bloß Meinung, Aberglauben und Vorurteil ist. Der Aufklärer streitet mit seiner Kritik gegen das, was er Meinung, Aberglauben und Vorurteil nennt.

      Es wurden damals übrigens auch Lehrbücher der Poesie geschrieben, denen der Name einer Critischen Dichtkunst gegeben wurde, unter anderem von Gottsched (1730) und Johann Jakob Breitinger (1740). Unter diesem Titel versuchten die Autoren eben mit all dem aufzuräumen, was für sie bloße Meinungen und Vorurteile in Sachen

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      Literatur waren. Und dieser Kritizismus kulminierte in den großen Kritiken des Philosophen Immanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), „Kritik der Urteilskraft“ (1790). Da wird die Kritik ins Prinzipielle gewendet, nämlich auf die kritisierende Vernunft selbst bezogen, als Selbstkritik der kritisierenden Vernunft.

      Glaubst du denn: von Mund zu Ohr

      Sei ein redlicher Gewinst?

      Überliefrung, o du Tor,

      Ist auch wohl ein Hirngespinst!

      Nun geht erst das Urteil an.

      Dich vermag aus Glaubensketten

      Der Verstand allein zu retten,

      Dem du schon Verzicht getan. (HA 2, 48 –49)

      So klingt das alles bei Goethe. Goethe ist ein in der Wolle gefärbter Aufklärer gewesen, und er ist es geblieben bis ins hohe Alter, und das heißt: bis weit ins 19. Jahrhundert hinein; es handelt sich bei den zitierten Versen nämlich um ein Gedicht aus einem seiner Alterswerke, dem lyrischen Zyklus „West-östlicher Divan“ von 1819. Überlieferung, so wird da gesagt, ist immer eine problematische Sache; worauf es ankommt, ist, nicht fraglos auf dem Weg der Anpassung in die Überlieferung einzurücken, sondern das eigene kritische Urteil zu bemühen, das Wagnis und die Arbeit des Selbst-Urteilens auf sich zu nehmen. sapere aude, wage zu wissen, lautet demgemäß ein immer wieder beschworenes Motto der Aufklärung; an seiner Stelle und in ähnlicher Funktion trifft man auch häufig auf ein Diktum von Horaz: nil admirari, nichts (unbesehen) bewundern.

      Säkularisation und „Querelle des Anciens et des Modernes“

      Aufklärung als Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung, als Emanzipation von der Autorität der Tradition. Wenn wir verstehen wollen, was das im 18. Jahrhundert konkret bedeutet hat, dann müssen wir uns vergegenwärtigen, was seinerzeit die wichtigsten Mächte der Tradition waren, die gegenüber den Menschen ihre Autorität zur Geltung brachten, autoritativ in das Leben der Menschen hineinwirkten, und auf welche Weise, mit welchen Mitteln sie das

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      taten. Es handelt sich dabei vor allem um zwei große Überlieferungskomplexe: das Erbe des Christentums, wie es die Basis für die Autorität der verschiedenen Kirchen und Theologien war, und das Erbe der Antike, wie es vom frühneuzeitlichen Humanismus in allen Belangen des kulturellen Lebens autoritativ zur Geltung gebracht worden war.

      Undogmatische Religiosität, freier Umgang mit dem Erbe der Antike

      Säkularisation, „Querelle des Anciens et des Modernes“ – das heißt allerdings nicht, daß die Aufklärer nun gar nichts mehr mit Religion und Antike zu tun haben wollten. Das Gegenteil ist richtig. Was die Religion anbelangt, so verstanden sich die meisten Aufklärer durchaus noch als religiöse Menschen, glaubten sie noch an einen Gott oder an etwas Göttliches, schon allein deshalb, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß man Moral, Ethik, ja das Soziale überhaupt, das schiedlich-friedliche Zusammenleben der Menschen, anders als religiös begründen könnte. Allerdings taten sie das vielfach dann nicht

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      mehr in den überkommenen kirchlichen, theologisch-dogmatischen Formen; sie machten sich ihre eigenen undogmatischen Gottesbegriffe, ihre eigenen undogmatischen Vorstellungen von einem Leben in Gott und einem ethisch begründeten sozialen Leben, sei es als Deisten, Theisten, Pantheisten oder Panentheisten. Nur wenige gingen auch darüber noch hinaus und versuchten es mit dem Atheismus, etwa mit materialistischen Positionen; immerhin hat das 18. Jahrhundert auch den Frühmaterialismus gesehen.

      Und was das Erbe der Antike anbelangt, so sind die Aufklärer allesamt zunächst einmal klassische Humanisten gewesen, mehr oder weniger gelehrte Kenner der Antike. Es gibt kaum einen Autor im 18. Jahrhundert, der nicht die Dichter der alten Griechen und Römer von Homer bis Vergil, von Sophokles bis Seneca und von Pindar bis Horaz gründlich kannte und dem deren Werke bei der Arbeit nicht ständig als Vorbilder oder Gegenbilder vor Augen standen. So ist es ja noch am Ende des Jahrhunderts, bei Goethe und Schiller, oder

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