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sah sich auch ­Goethe als ein „Befreier des Individuums“, ja wollte er in seinem Beitrag zur Individualisierung geradezu den Kern seiner literarischen Lebensleistung erkennen (HA 12, 360), doch war und blieb ihm der Kult der Innerlichkeit letztlich ein Greuel. Und das kommt im „Wilhelm Meister“ auch überall mit großer Deutlichkeit zum Ausdruck; man denke nur an das 6. Buch, die „Bekenntnisse einer schönen Seele“, die ganz von der kritischen Distanz zur Feier des „geheimnisvollen Wegs nach innen“ leben. Auch ­Goethe ging es wesentlich um die Entfaltung von Individualität, Subjektivität und Phantasie, aber er verstand darunter etwas anderes als die Romantiker.

      ­Goethe hat gelegentlich einmal bemerkt, die Maxime „Erkenne dich selbst“, jenes Wort, das als Inschrift am Tempel von Delphi angebracht war und seit den Zeiten der alten Griechen als das große Schibboleth der Theologie und Philosophie allgegenwärtig war, sei ihm „von jeher (…) immer verdächtig (vorgekommen)“ (HA 13, 38). Er empfand es als problematisch, weil es den Menschen dazu verleiten kann, über der Beschäftigung mit sich selbst die Fühlung mit der „Außenwelt“ und mit den anderen Menschen zu verlieren. In und um sich selbst zu kreisen, um seiner ureigensten Phantasie zu leben, macht nach ­Goethe keineswegs frei, macht vielmehr unfrei, nämlich handlungsunfähig.

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      Der menschliche Geist erweist seine Stärke für ­Goethe nicht darin, daß er in der Lage ist, die Wirklichkeit, die Natur, das sinnlich Gegebene nach Belieben zu überspringen und hinter sich zu lassen. Darin will er eher eine Schwäche erkennen, nämlich das, was die Aufklärer als Gefahr der Schwärmerei verhandeln. Die Stärke des Geistes liegt für ­Goethe darin, daß er den Menschen in die Lage versetzt, sich der wirklichen Welt, der Natur, dem Leben zu stellen und zu öffnen. Demgemäß heißt es in seinem lyrischen „Vermächtnis“ (1829):

      Den Sinnen hast du dann zu trauen,

      Kein Falsches lassen sie dich schauen,

      Wenn dein Verstand dich wach erhält. (HA 1, 370)

      Will sagen: wenn der Verstand dich vor Schwärmerei bewahrt. ­Goethe hält also bis zuletzt an jener „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (P. ­Kondylis) fest, um die sich die Aufklärung des 18. Jahrhunderts vor allem bemüht hat. Sich an der Sinnlichkeit vorbei in übersinnliche Dimensionen hineinzuschwärmen, gilt auch ­Goethe noch als etwas Gefährliches, ja Krankes. Eben hier verläuft die Grenze zwischen ­Goethe und der Romantik, und damit zugleich die Grenze zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung. Wie für die Aufklärer Wieland und Lessing ist auch für ­Goethe „die Wahrheit des Realen“, das „offenbare Geheimnis“ der „Natur“ (HA 12, 467) das eigentlich Wunderbare, schön und schauerlich, bedrückend und faszinierend in einem, und so der Gegenstand, an dem sich die dichterische Phantasie vor allem abzuarbeiten hat.

      Die „Lehrjahre“ als empfindsamer Roman

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       und „Einbildungskraft“ definiert. In diesem Sinne bringt der empfindsame Roman seit Samuel Richardson (1689–1761), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Laurence Sterne (1713–1768) zugleich das Glück einer individuellen Selbstverwirklichung, die im Ausleben von Sinnlichkeit, Gefühl und Phantasie gründet, und die Gefahren zur Darstellung, die von der „Schwärmerei“ für eine solche Selbstverwirklichung ausgehen, nämlich davon, daß „Herz und Einbildungskraft“ mit einem Individuum durchgehen, so daß es im Gefühlsüberschwang seine Phantasieprodukte mit der Wirklichkeit verwechselt.

      Nichts anderes führt ­Goethe im „Wilhelm Meister“ vor, wie zuvor schon auf andere Weise im „Werther“. Die Figuren der schwärme­rischen Innerlichkeit, Mignon, den Harfner, die „schöne Seele“ – und das sind eben die Figuren, die die Frühromantiker vor allem fasziniert haben – läßt ­Goethe allesamt scheitern; das 6. Buch, die „Bekenntnisse einer schönen Seele“, liest sich fast schon wie eine Parodie auf die „deutsche Innerlichkeit“. Der Held Wilhelm Meister kommt nur davon, weil seine entsprechenden Neigungen von der „Gesellschaft vom Turm“ einer subtilen „Schwärmerkur“ unterzogen werden. Das haben die Frühromantiker zunächst übersehen oder nicht wahrhaben wollen.

      ­Goethe geht also den Weg nicht mit, den die Frühromantiker angesichts der Französischen Revolution und ihrer turbulent-chaotischen Folgen erkunden, den Weg nach innen, und innen nach oben. Statt dessen sucht er sich in Werken wie den „Lehrjahren“ und dem „Faust“ neuerlich der Prinzipien des aufklärerischen Denkens zu vergewissern, trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer Desavouierung durch die Revolution, deren Verlauf von ihm zunächst ja als katastrophal erlebt worden ist. Insofern rücken für ­Goethe Revolution und Romantik eng zusammen; es sind für ihn beides gleichermaßen Formen eines schwärmerischen Aufs-Ganze-Gehens.

      ­Goethe und die Antike

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      er nicht mehr geglaubt, daß man die Kunst der Antike unter modernen Bedingungen einfach nachahmen und durch bloße Nachahmung wiederaufleben lassen könne; die Zeiten des frühmodernen Humanismus waren auch für ihn vorbei. Aber er war der festen Überzeugung, daß die Beschäftigung mit der Kunst der Griechen, wie er sie durch einen klaren Wirklichkeitssinn, durch Natürlichkeit und durch eine verfeinerte Sinnlichkeit ausgezeichnet sah, für das zu schwärmender Innerlichkeit neigende moderne Individuum eine Art Medizin sein könnte, ein Heilmittel, das es von seiner Neigung kurieren könnte, sich in Subjektivitäten zu ergehen und in sich selbst zu verlieren, das seinen Realitätssinn schärfen könnte. Die Beschäftigung mit der Kunst der Antike ist für ­Goethe zunächst und vor allem eine „Schwärmerkur“ für das moderne Individuum.

      Dabei geht es ihm keineswegs darum, die Individualisierung, den modernen Drang zu individueller „Selbstverwirklichung“ generell zu begrenzen. Im Gegenteil – gerade solche „Selbstverwirklichung“, solche „Bildung“ des Individuums ist ihm von seinen Anfängen bis zu seinen letzten Arbeiten ein zentrales Anliegen gewesen; als ein „Befreier des Individuums“ und nicht als ein Klassiker wollte er den Deutschen in Erinnerung bleiben. Nicht um der Individualisierung und dem Drang zur „Selbstverwirklichung“ einen Riegel vorzuschieben, fordert er die Orientierung an der Kunst der Antike, sondern um sie zu fördern, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sie in der Tat gelingen könne. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn er nach 1815 in Werken wie der „Italienischen Reise“ (1817) und dem „Zweiten Römischen Aufenthalt“ (1829) oder auch in dem Zeitschriftenprojekt „Über Kunst und Altertum“

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