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stärker im Judentum des Zweiten Tempels verwurzelt gesehen wird, genauer als eine weitere Strömung innerhalb des mannigfaltigen antiken Judentums Judäas/Palästinas.

      Vieles von dem, was vorher als christliches Proprium gegolten hatte, war nun erstmals in antiken jüdischen Texten attestiert, noch dazu auf Hebräisch. Besonders große Aufmerksamkeit galt der Messianologie. Eine eschatologische Heilsfigur als Sohn Gottes? Ein leidender Messias? Die Deutung bestimmter prophetischer Texte auf den Messias? Prophetisch inspirierte Schriftauslegung? Seligpreisungen? Ein Kultmahl mit Brot und Wein? Ausdrücke wie „Werke des Gesetzes“? Nicht alles ist stichhaltig, aber die Präsenz all dieser Punkte in den Qumranrollen muss zumindest diskutiert werden.

      Und für die Historiker kommt noch dazu, dass – im Gegensatz zum Urchristentum – die Schriftrollen mit archäologischem KontextSchriftrollen einen archäologischen Kontext haben. Wenn man die Siedlung als Wohnsitz der Eigentümer der Rollen identifiziert, wie es die Mehrheit weiterhin tut, können Rolle und Siedlung, Text und Kontext, Anspruch und Wirklichkeit, Ideal und Realität, Reinheitsliturgie und Mikve, Gleichheitsideal und Friedhof miteinander in Beziehung gesetzt werden. Bis vor wenigen Jahren war dieser Punkt vielleicht der umstrittenste, doch haben die Erkenntnisse der modernen Physik und Chemie hier neue Sicherheiten gewonnen. Wie würden sich Historiker des frühen Christentums oder der tannaitischen rabbinischen Literatur über ähnliche Entdeckungen freuen! Bis zu den ersten archäologisch verifizierten christlichen Bauwerken in Dura Europos und Megiddo müssen wir bis ins dritte Jahrhundert warten – ohne darin bislang die Literatur ihrer Bewohner in ähnlicher Masse gefunden zu haben. Die christlichen Papyri stammen fast ausschließlich von antiken Müllhalden in Ägypten, nur selten aus Bauten mit archäologischem Kontext. Die schiere Masse der Qumranrollen stellt alles andere in den Schatten. Alle christlichen griechischen Papyri bis zum fünften Jahrhundert zusammengenommen entsprechen etwa der Hälfte der Zahl der Qumranrollen.

      Auch auf sprachwissenschaftlichem Gebiet haben die Qumranrollen unsere Kenntnis der hebräischen Sprache revolutioniert. Das in den Qumranrollen bezeugte Hebräisch schließt eine große Lücke |8|zwischen den jüngeren Werken der Hebräischen Bibel und den ältesten Straten der rabbinischen Literatur. Dies gilt – vor allem auch aufgrund der Bar Kosba Texte von anderen Fundorten um das Tote Meer – auch für das Aramäische.

      Schließlich profitiert auch die antike Buchkunde, Kodikologie (Lehre über den Aufbau von Büchern) und Paläographie (Erforschung der Geschichte der Schrift). Für das Studium einer Religion, die genau in dieser Periode begann, das Buch mehr und mehr ins Zentrum ihres Kultes zu stellen, ist das Wissen über die physische Beschaffenheit von Büchern absolut fundamental. Gab es neben Rollen noch andere Buchformen? Gab es schon Rollen, die die ganze Tora einschlossen? Inwiefern bestimmten Inhalt oder Zweck das Layout einer Rolle? Gab es private Abschriften heiliger Texte? Wie unterscheiden sie sich von liturgischen Rollen? Welche Zusatzzeichen erfanden die Schreiber, um Lesen und Vorlesen zu unterstützen (Aufteilung in Paragraphen, Titel)? Wie wurden Korrekturen angezeigt?

      1.2 Die Entdeckung 1946/1947

      Die Entdeckungsgeschichte ist legendär. Letzte Wahrheiten sind schwierig zu erreichen. Wir schreiben das Jahr 1946 oder 1947. Der Zweite Weltkrieg ist beendet. Großbritannien bereitet sich darauf vor, das seit der Eroberung 1917 unter sein Mandat gestellte Palästina zu verlassen. Seit 1936 brechen immer wieder Unruhen zwischen Arabern und Juden aus. Beide wissen, es werde eine größere Auseinandersetzung geben, sollte es zur Gründung eines jüdischen Staates kommen. Praktisch ist es ein Bürgerkrieg auf kleiner Flamme.

      Ende 1946 oder Anfang 1947 sucht Mohammad edh-Dhib („der Wolf“) vom Beduinenstamm Ta‘amireTa‘amire in den Berghängen auf der Nordostseite des Toten Meeres unweit von Jericho nach einer verirrten Ziege, vielleicht auch nach einem geeigneten Versteck, denn Waffenschmuggel ist eine gute Verdienstquelle für die Bewohner der Wüste. Wir werden es nie genau wissen. Edh-Dhib gibt an, sich in den Schatten eines Felsen gesetzt und spielerisch Steine in eine nahegelegene Öffnung geworfen zu haben. Als er Geschirr zerspringen hört, flieht er zunächst zu seinem Stamm, um am nächsten Tag mit seinem Cousin zurückzukommen. Durch die kleine Öffnung dringen sie in die Höhle ein und finden inmitten unzähliger Scherben acht intakte Krüge, die sich bis auf einen als leer entpuppen. Dieser Krug enthält kein Gold, sondern nur drei in Tuch eingewickelte Rollen in einer ihnen unbekannten Schrift. |9|Obgleich sie enttäuscht sind, keinen Schatz vorgefunden zu haben, kehren sie noch einmal in die Höhle zurück und entnehmen ihr noch vier weitere Rollen.

      Sie versuchen, ihre Funde bei Antiquitätenhändlern in der nächstgelegenen Stadt, Bethlehem, zu Geld zu machen. Ein Händler namens Faida Salahi (George Isaiah) erwirbt drei Rollen. Ein anderer, Khalil Iskandar Schahin (1910–1993), genannt KandoKando, erwirbt vier andere. Kando hält die Schrift für Syrisch und bringt sie ins St. Markus Kloster in Jerusalem. Der frisch ernannte syrische Metropolit Mar Athanasius Jeschua SamuelMar Athanasius Jeschua Samuel (1909–1995) kauft ihm diese vier Rollen ab und zeigt sie in den Sommermonaten verschiedenen Gelehrten und Mittelsmännern an der École Biblique et Archéologique und der jüdischen Nationalbibliothek im in Zonen aufgeteilten Jerusalem. Kein Fachmann hält sie für antik.

      Der Archäologe und Epigraphiker der Hebräischen Universität, Eliezer SukenikEliezer Sukenik (1889–1953), wäre ohne Zweifel der beste Ansprechpartner, doch weilt er im Freisemester im Ausland. Am 24. November 1947 kontaktiert ein armenischer Mittelsmann Salahis den jüdischen Professor und zeigt ihm am Jaffator durch einen Stacheldrahtzaun ein Fragment. Sukenik stellt aufgrund seiner vorherigen Arbeiten zu antiken Inschriften sogleich Ähnlichkeiten der Schrift fest, bemerkt auch orthographische Besonderheiten und vermutet, die Rollen könnten tatsächlich antik sein. Doch ist bislang kein einziger antiker hebräischer Text auf Pergament bekannt. Sicher ist sich seit dem Skandal um die Shapira-Fragmente Ende des 19. Jahrhunderts so schnell niemand mehr.

      Die sogenannten Shapira-FragmenteShapira-Fragmente waren fünfzehn Lederfragmente in paläohebräischer Schrift mit einem Text ähnlich dem des Deuteronomiums. Ein Antiquitätenhändler namens Moses Shapira hatte sie 1878 von Beduinen erworben. Diese gaben an, die in Leinen gewickelten Texte um 1865 in einer Höhle im Wadi Mujib auf der jordanischen Seite des Toten Meeres gefunden zu haben. Nach anfänglich großem Aufsehen scheiterte er 1883 mit Verkaufsverhandlungen an Museen in Berlin und London und wurde sogar der Fälschung bezichtigt. In der Folge nimmt sich Shapira das Leben. Form, Inhalt und Entdeckungsumstände der Qumranrollen widerlegen einen Teil der vormals gegen die Authentizität der Fragmente angeführten Argumente. Dass sie seit 1888 vermisst sind, macht neuen Untersuchungen allerdings einen Strich durch die Rechnung.

      Als Sukenik erfährt, dass die Rollen aus einer Höhle im Nordosten des Toten Meeres stammen, kommt ihm ein heute berühmter Passus aus Plinius dem Älteren in den Sinn, der die Essener hier verortet (s.u. S. 78). Sukenik kennt auch den von Jeremia erwähnten Usus, Texte in Tongefäßen vor Ratten und Würmern zu schützen: „So spricht der Herr der Heere, der Gott Israels: Nimm diese Urkunden, die versiegelte Kaufurkunde und auch die offene, und leg sie in ein Tongefäß, damit sie lange Zeit erhalten bleiben.“ (Jer. 32,14). Der Talmud erwähnt das Begräbnis einer unbrauchbar gewordenen Torarolle in einem Krug (bMeg 26b). Sukenik schließt daraus: die Schriftrollen kommen aus einer essenischen Geniza.

      Das Wort GenizaGeniza wird von der Wurzel g-n-z („verbergen“) abgeleitet und bezeichnet allgemein einen Ort, an dem

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