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zu führen wäre, in der die vorgetragenen Thesen mit der Forschungslage abgeglichen würden. Das kann aber natürlich nicht geschehen; es hätte den Erstickungstod des Unternehmens zur Folge. So sollen hier in den Anmerkungen vor allem die Zitate nachgewiesen werden; dabei soll auf möglichst leicht erreichbare Ausgaben zurückgegriffen werden. Darüber hinaus sollen lediglich einige besonders ergiebige, rasch weiterführende Anschlüsse an die Forschungsdiskussion benannt werden. Was sich in Handbüchern und Lexika nachschlagen läßt, bleibt ohne Nachweis.

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      1.1 Die Literatur der frühen Neuzeit im kulturellen Gedächtnis

      Neuere Deutsche Literatur

      Wer sich für ein Studium der Germanistik und hier wiederum für den Schwerpunkt Neuere Deutsche Literatur entscheidet, der wird dabei kaum schon an die Literatur der frühen Neuzeit denken. Sein Interesse wird durch die Begegnung mit der Literatur anderer Epochen geweckt worden sein, mit Werken vor allem der Gegenwartsliteratur und der Klassischen Moderne, vielleicht auch des 19. Jahrhunderts, der Klassik oder der Romantik, allenfalls noch des 18. Jahrhunderts. Es wird jedoch nicht lange dauern, bis er bemerkt, daß die Wissenschaft die Geschichte der Neueren Literatur bereits um 1500 beginnen läßt und daß dies gute Gründe hat; daß sein Bild von der Neueren Literatur historisch unterbelichtet und sein Zugriff auf die Werke späterer Epochen in manchem unsicher bleiben würde, wenn er sich nicht auch mit der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts vertraut machen wollte, wie sie ihm unter Epochenbegriffen wie Renaissance und Humanismus, Reformation, Gegenreformation und Barock entgegentritt.

      Eckpfeiler des kulturellen Gedächtnisses

      Freilich wird er zunächst noch kaum eine Vorstellung davon haben, was er von der Beschäftigung mit ihr für sich und seine literarischen Interessen zu erwarten hat. Denn nur wenig hat sich von ihr im kulturellen Gedächtnis erhalten, ist im literarischen Leben der Gegenwart präsent. Der eine oder andere hat vielleicht schon einmal gehört, daß Martin Luther in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Bibel ins Deutsche übersetzt und damit eine deutsche Hoch- und Literatur­sprache auf den Weg gebracht habe, oder daß Martin Opitz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Literaturreform durchgeführt habe, die eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung zur Klassik, zu Lessing, Goethe und Schiller, Hölderlin und Kleist gewesen sei, doch wo trifft man schon einmal auf einen Text von Luther und

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      Opitz selbst? Kirchgänger haben wohl noch immer einige geistliche Lieder von Luther im Ohr – „Ein feste Burg ist unser Gott“, „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ – oder auch Lieder von Paul ­Gerhard und einigen anderen ansonsten wenig bekannten Dichtern des Barock – „O Haupt, voll Blut und Wunden“, „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ – doch wer besucht noch regelmäßig einen Gottesdienst?

      Wer sich für die deutsche Geschichte interessiert oder wer gerne in die Oper geht, mag schon einmal auf Hans Sachs und die Meistersänger von Nürnberg gestoßen sein; das bedeutet freilich im allgemeinen nicht, daß er auch einem ihrer Meisterlieder begegnet wäre. Immerhin hat sich mancherorts die Erinnerung an einige der sogenannten „Volksbücher“ erhalten, insbesondere an „Schwankromane“ wie die von Till Eulenspiegel und von den Schildbürgern; man kennt deren Geschichten allerdings eher durch moderne Bearbeitungen als durch die Lektüre der Originaltexte. Und natürlich ist „Barocklyrik“, sind Gedichte von Paul Fleming, Andreas Gryphius oder Christian Hofmann von Hofmannswaldau noch immer ein Gegenstand des Deutschunterrichts; man darf aber wohl bezweifeln, daß sie bei einer größeren Zahl von Schülern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, daß sie für sie mehr sind als einer unter vielen befremdlichen Schulstoffen. Einzig Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und sein Roman „Der Abentheuerliche Simplicissimus“ scheinen besser in Erinnerung geblieben zu sein, und überdies unter Vorzeichen, die auch einen Leser von heute eine interessante Lektüre erwarten lassen: da soll man Einblick in die Welt des Dreißigjährigen Kriegs erhalten, und zwar auf eine durchaus spannende, unterhaltsame Weise, ja es soll noch nicht einmal an deftigen Szenen fehlen! Der Rest ist vergessen, scheint allenfalls noch für eine hochspezialisierte Literaturwissenschaft von Interesse zu sein.

      Die frühe Neuzeit als Zeit des Übergangs

      Daß sich nur so wenig von der Literatur der frühen Neuzeit im kulturellen Gedächtnis erhalten hat, ist auch ein Werk der Germanistik – ausgerechnet der Germanistik, von der man doch anderes erwarten möchte. Aber sie hat nicht nur ihr Teil zu der altehrwürdigen Tradition der Vernachlässigung der frühen Neuzeit beigetragen, sondern sich eine zeitlang auch noch alle Mühe gegeben, diese auf den Boden einer wohlbegründeten Theorie zu stellen. Wenn man eine der Literaturgeschichten zur Hand nimmt, mit denen sie sich im

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      19. Jahrhundert ihren Platz unter den akademischen Wissenschaften erobert hat und in den kulturellen Hausrat der Deutschen eingegangen ist, etwa die „Geschichte der deutschen Litteratur“ (1883) von Wilhelm Scherer, dann sieht man auf den ersten Blick, daß sich ihr Interesse zunächst auf zwei Epochen konzentriert hat: auf die „­Deutsche Klassik“ der Zeit um 1800, also auf die Entwicklung von Lessing bis zu Goethe und Schiller, und auf die „mittelhochdeutsche Klassik“, auf die Jahre um 1200, die Zeit von Walther von der Vogelweide, ­Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg. In diesen beiden Epochen sollte die deutsche Literatur nach ihrer Vorstellung ihr Bestes gegeben haben; sie galten ihr als die „Blütezeiten“ dessen, was sie die „deutsche Nationalliteratur“ nannte.

      Demgemäß wollte sie in den Jahrhunderten zwischen den beiden „Klassiken“, dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, nicht mehr als eine Übergangszeit erblicken. Das Spätmittelalter war für sie die Zeit des Abstiegs vom Gipfel der ersten Blüte, eine Periode unaufhörlichen Niedergangs und Verfalls, und die frühe Neuzeit die Phase des allmählichen Wiederaufstiegs zu neuerlichen Höhen, Jahre heftiger Kämpfe und immer neuer Anläufe zu einer Dichtung von Rang. Was dabei an Literatur entstand, galt ihr insgesamt als wenig bedeutend, als gedanklich unreif und ästhetisch unvollkommen; es interessierte sie im Grunde nur aus historischen Gründen, nämlich um an ihm den Prozeß von Niedergang und Wiederaufstieg zu demonstrieren.

      Dieses Bild vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur verdankt sich wesentlich den Interessen und Wertungen der Bewegung, die an der Wiege der Germanistik stand: der Romantik; genauer: der politischen Romantik, der Nationalromantik, wie sie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aus der Verbindung der frühroman­tischen Hochschätzung der schöpferischen Phantasie mit dem nationalen Gedanken, mit der Forderung nach „deutscher Eigenart“ in allen Belangen der Kultur erwuchs. Denn es war sie, die zuerst die Zeit seit dem ersten Auftreten Goethes zur „Morgenröte“ einer „klassischen deutschen Nationalliteratur“ ausrief und die zugleich die Aufmerksamkeit auf die Literatur des Mittelalters lenkte, in der sie den Inbegriff und das Vorbild aller wahrhaft romantischen Poesie erblickte. Hier wie dort sollte es sich um Werke handeln, in denen sowohl die Potentiale der schöpferischen Phantasie in jeder Richtung ausgespielt würden,

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      als sie auch mit jeder Faser „deutsche Eigenart“ bezeugen würden und die insofern eben als „klassischer“ Ausdruck der Möglichkeiten einer deutschen Dichtung zu gelten hätten.

      Von solchen Vorstellungen aus konnte man aber der Literatur der frühen Neuzeit nur wenig abgewinnen. Diese hatte sich nämlich ganz im Bann der beiden Bewegungen entwickelt, die im 16. Jahrhundert nach und nach dem gesamten kulturellen Leben ihren Stempel aufdrückten: der Renaissance, der Wiederentdeckung und Neu­erschließung der Kultur der alten Griechen und Römer durch den Humanismus, und der Reformation und Gegenreformation, des Versuchs einer neuerlichen, besonders intensiven und konsequenten Durchdringung aller Bereiche des Lebens mit den Dogmen und Normen der christ­lichen Religion. Und das hatte für die Literatur bedeutet, daß sie sich zugleich auf den Weg der „imitatio veterum“, der „Nachahmung der Alten“ begeben und in den Dienst des religiösen Lebens gestellt hatte. Mit anderen Worten: die schöpferische Phantasie hatte sich an das antike und das christliche Erbe gebunden, sie hatte sich

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