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Luise und Leopold. Michael van Orsouw
Читать онлайн.Название Luise und Leopold
Год выпуска 0
isbn 9783039199815
Автор произведения Michael van Orsouw
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Издательство Bookwire
Ein Satz mit ungeheurer Sprengkraft.
Der Erzherzog will nicht mehr.
Verzichtet auf Titel und Rang.
Will bürgerlich leben.
Vielleicht hat Franz Joseph beim Lesen des Briefs seinen berühmten Spruch ausgerufen: «Mir bleibt gar nichts erspart!» Auf jeden Fall wird er sich darüber geärgert haben, dass schon wieder ein Erzherzog aus der Reihe tanzt. Die unglaublich lange Zeit von 54 Jahren wirkt er schon als Kaiser, sodass eine gewisse Amtsmüdigkeit nachvollziehbar ist. Dazu haben ihn die verlorenen Kriege in Italien und gegen Preussen ebenso erschüttert wie tragische Ereignisse im Privaten. Sein Leben gleicht einer unendlich langen griechischen Tragödie, die im Übermass mit Unglücken befrachtet ist. Die erste Tochter, die ihm Elisabeth gebar, war Sophie Friedericke. Doch die Kleine bekam im Alter von zwei Jahren heftigen Durchfall und Fieber und starb daran.
Danach übernahm Franz Josephs Bruder Maximilian die Kaiserkrone von Mexiko; doch er scheiterte in dieser ihm so fremden Umgebung. Die Aufständischen nahmen ihn gefangen, verurteilten ihn zum Tode und richteten ihn hin.
Für den nächsten Schicksalsschlag war sein einziger Sohn, Thronfolger Rudolf, besorgt. Dieser hatte zwei grosse Probleme: Er war zu liberal für einen zukünftigen Kaiser, und er hatte Syphilis. Weil er keinen Ausweg sah, brachte Rudolf zuerst seine Geliebte und dann sich selbst um – ein Unglück sondergleichen, das Franz Joseph nur schlecht vertuschen konnte.
Und schliesslich hatte der Kaiser noch das Drama mit seiner Frau Elisabeth zu verkraften: Eine ihrer vielen Auslandsreisen führte sie 1898 in die Westschweiz. Von ihrem Hotel in Montreux aus machte sie einen mehrtägigen Ausflug nach Genf. Hier stach sie ein hasserfüllter Anarchist auf dem Quai du Mont-Blanc mit einer einfachen Feile nieder.
Doch damit nicht genug: Im Gebälk der jahrhundertealten Habsburgermonarchie knirscht es seit Jahrzehnten bedenklich. Angesichts der demokratischen Revolutionen in ganz Europa haben Kaiser- und Königshäuser einen schweren Stand. Luise und Leopold stellen mit ihrer Flucht Paradebeispiele für das allmähliche Zugrundegehen der Monarchien dar, für den Niedergang des Unhinterfragten, für den Abgesang auf den höfischen Kitsch. Der österreichische Publizist Karl Kraus nennt das Wien der Jahrhundertwende eine «Experimentierstation für den Weltuntergang». Das ist zugespitzt formuliert, aber zielt darauf, dass das Vielvölkerreich Österreich-Ungarn auseinanderzubrechen droht; die Menschen in Österreich, Ungarn, der Slowakei, in Rumänien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Bukowina, Böhmen, Mähren, Schlesien, Serbien, Bosnien und Siebenbürgen haben unterschiedliche Interessen; die Völker des Reiches arbeiten deshalb mehr gegen- als miteinander.
Franz Joseph versucht mit eiserner Disziplin das zusammenzuhalten, was nach links und rechts wegzubrechen droht. Er hält den Mythos der – angeblich – unsterblichen Habsburger aufrecht. Seit 1848 ist er schon im Amt, sodass er als Langzeitkaiser die integrative Kraft des Reiches verkörpert. Franz Josephs Regierungszeit ähnelt dem damals so beliebten Walzertanz: Dabei geht es nach links, nach rechts und dann im Kreis herum, doch alles bleibt im eng bemessenen Rahmen, trotz viel Bewegung. Die Form bleibt allen Emotionen zum Trotz immer gewahrt. So geht es auch dem Vielvölkerreich Habsburg-Österreich, wo der Kaiser die Form, wenn nicht sogar einen ausgeprägten Formalismus, aufrechterhält.
Deshalb regt sich Franz Joseph so sehr auf über diejenigen Familienmitglieder des Hauses Habsburg, die neben der Spur laufen. Vor allem viele der Erzherzöge benahmen und benehmen sich nicht so, wie er es erwartet.
Eine «Künstlerin»
Jetzt folgt Leopold Wölfling mit seinem Austrittsschreiben. Wie hatte sich Kaiser Franz Joseph schon früher mit dem Kerl herumgeärgert! Als dieser zum ersten Mal mit dieser besonderen «Künstlerin» Wilhelmine Adamovic ankam, die unübersehbar aus dem horizontalen Gewerbe stammte, hatte Franz Joseph seinen unartigen Verwandten in die unbeliebte Garnisonsstadt Przemyśl versetzt, einen befestigten Vorposten gegen Russland (heute an der Südostecke Polens gelegen).
Es half nichts.
Ein nächster Plan musste her.
Eine geschlossene Anstalt.
Auch das ohne Wirkung.
Leopold hielt seiner Wilhelmine die Treue.
Franz Joseph hatte durchaus selbst Erfahrung mit unschicklichen Beziehungen und Affären. Neben der ehelichen Beziehung mit seiner Frau Elisabeth – Sisi – pflegte er während Jahren sexuellen Umgang mit Anna Nahowski, der Frau eines Eisenbahners. Ihre Liebesdienste verdankte der Kaiser mit teuren Geschenken, einer Villa und einem Sommerhaus. Nach 14 Jahren regelmässigen Kontakts liess er sie kurzerhand mit einem Schmerzensgeld von umgerechnet 1,6 Millionen Franken sitzen.
Danach hatte der Kaiser eine Beziehung mit der Burgschauspielerin Katharina Schratt, übrigens mit ausdrücklicher Billigung seiner Frau Elisabeth. «Die Schratt», wie man sie in Wien nannte, arbeitete zuerst am Wiener Stadttheater und dann aber, als sich die Beziehung mit Franz Joseph vertiefte, am renommierteren Wiener Burgtheater. Nach Elisabeths Ermordung in Genf heiratet Franz Joseph nicht mehr, sondern führt eine Art Geheimehe mit Katharina Schratt. Sie nimmt unübersehbar Einfluss am Hof, sodass die hohen Beamten den Kaiser neckischerweise «Herr Schratt» nennen, wenn er es nicht hört.
In Anbetracht dieser eigenen Erfahrungen könnte man von Franz Joseph mehr Verständnis für Leopold Wölfling erwarten, der wegen einer unakzeptablen Liebe den Ausbruch wagt. Doch nach aussen wahrt der Kaiser mit eiserner Disziplin die Etikette, da lässt er die Zügel keinen Millimeter schleifen. Das Haus Habsburg dürfe keine Schwäche zeigen, ist er überzeugt. Franz Joseph versucht deshalb zusammenzuhalten, was noch zu halten ist. Dazu gibt er sich sehr standesbewusst, wenn nicht sogar elitär.
Er ernennt zeitlebens nur Adlige zu Ministerpräsidenten und zeigt auch sonst viel Standesdünkel. Aus seiner Sicht ist beispielsweise der Handschlag des Kaisers eine Art Auszeichnung, die nicht jede oder jeder verdient. So reicht Franz Joseph bei Empfängen nur Hochadligen die Hand; Bürgerliche, die als Landeshauptleute oder als hohe Beamte den Aristokraten machtmässig überlegen sind, müssen sich mit einem kurzen Kopfnicken des Kaisers begnügen.
Angesichts seines Standesbewusstseins dürfte ihn das Austrittsbegehren seines Verwandten ungemein ärgern. Dass Leopold Ferdinand «Stellung und Rang als Erzherzog ablegen» will, sei wegen einer Liebelei völlig unnötig; dieser Schritt errege vermeidbares Aufsehen und schwäche erneut die Aussenwirkung des Hauses Habsburg. Das hat tiefgreifende Folgen, die Leopold noch lange beschäftigen werden.
Ein nicht standesgemässes Verhältnis
Der nächste Tag in diesem Dezember 1902 ist Freitag, der Vierzehnte. Nach dem Frühstück fährt die Dreiergruppe zum Hauptbahnhof Zürich, um André Giron abzuholen – Luise freut sich ausserordentlich, dass ihr Liebhaber mit einem Tag Verspätung doch noch nach Zürich gefunden hat.
Der junge Belgier ist seit Anfang 1902 Sprachlehrer von Luises Kindern am Hof in Dresden. Sein Unterricht interessierte Luise, und er gab ihr ausgesprochen höflich und sympathisch über den behandelten Stoff und die Lernfortschritte der Kinder Auskunft. Dieser 24-jährige Lehrer verhielt sich so anders als Luises Ehemann Friedrich August, der schroff und abweisend wirkte und weder Interesse für seine Frau noch für die Kinder zeigte und lieber tagelang durch seine Jagdreviere streifte.
So sahen sich Luise und der Privatlehrer jeden Tag, die Gespräche nahmen an Intensität, Verbindlichkeit und Vertraulichkeit zu. Als dann im Mai die royale Familie vom weitläufigen Taschenbergpalais in Dresden gewohnheitsmässig in die Villa Wachwitz umzog, kam auch André Giron mit, und der Kontakt zu Luise gestaltete sich noch familiärer. So geschah es, dass sich Luise von Sachsen und André Giron ineinander verliebten. Wie sie später zugaben, kamen sie sich in diesem Mai auch körperlich näher.
Zunächst konnten sie das komplett unschickliche Verhältnis geheim halten, doch irgendwann im Herbst tuschelten die Hofangestellten so sehr, dass Oberhofmeisterin