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sie in einem bescheidenen Reihenhaus mit einer einzigen Angestellten, die ihr die Treue hält.

      Zwar gibt es in Luises Wohngemeinde Ixelles eine Prachtsallee mit dem Namen Avenue Louise. Doch diese Paradestrasse wurde nicht nach ihr benannt, sondern nach Prinzessin Louise, der Tochter König Leopolds II. von Belgien. Unsere Luise ist hier in Brüssel ein «No Name», in Vergessenheit geraten und dem internationalen Adel, dem sie angehörte – und dem sie einst mit einem grossen Skandal den Atem raubte –, egal. Ein Skandal, der sich in der Schweiz ereignete und die Zeitungsspalten in ganz Europa füllte. Luise hielt damit Adelswelt, Geheimpolizei, Rechtsanwälte, Reporter und Ärzteschaft auf Trab.

      Wie es zu diesem offenkundig tiefen Fall des Habsburger Geschwisterpaars Luise und Leopold kommen konnte, das ist – verständlicherweise – eine längere Geschichte. Würde man diese erfinden, gälte sie als schlecht erdacht und unglaubwürdig. Als süssliches Märchen mit viel royalem Personal taugt sie nicht, denn sie ist gespickt mit Tragik und Trauer.

      Doch die Geschichten rund um Luise und Leopold sind mit all ihren Irrungen und Wirrungen, mit ihren Skandalen und Verrücktheiten wirklich so geschehen. Alle Fakten haben sich so ereignet, nichts ist hier erfunden. Um ihre wirklich aussergewöhnlichen Leben aufzurollen, müssen wir etwas zurückblenden, nämlich in den Dezember 1902. Dieser geht in die Annalen ein, weil er ausserordentlich kalt ist.

      Und weil sich ein Skandal ereignet.

      Der für Aufsehen sorgt.

      In ganz Europa und sogar in Amerika.

      Davon ist hier die Rede.

      Eine nächtliche Flucht

      Nach Mitternacht, vom 11. auf den 12. Dezember 1902, schleichen zwei Gestalten auf Socken durch die Salzburger Residenz. In diesem Schloss bewegt man sich für gewöhnlich selbstbewusst, sodass die Absätze klackend durch die Gänge hallen, schliesslich handelt es sich um eine repräsentative Palastanlage für Österreichs Hochadel.

      Das nächtliche Herumschleichen ereignet sich im Toskanertrakt, im Anbau gegen Norden, wo der Habsburger Zweig der sogenannten Toskaner wohnt und wirkt, der bis vor wenigen Jahrzehnten in Florenz lebte und bis 1859 die Toskana regierte. Die zwei Gestalten eilen wie Nachtgespenster durch die langen Gänge; nur stecken sie nicht unter Leintüchern, sondern tragen bequeme Reisekleidung, in der einen Hand einen kleinen Koffer, in der anderen ihre Schuhe.

      Das sieht nicht nach Einbrechern oder Kindern beim Gespensterspielen aus, sondern nach einem Wegschleichen, das keiner bemerken soll. Keine Kammerzofe, kein Obersthofmeister, kein Minister, kein Hofrat, kein Hofmeister, kein Geheimrat, kein Kämmerer, keine Palastdame, kein Edelknabe, kein Herzog – niemand nimmt Notiz von den beiden. Es handelt sich um die Flucht von zwei erwachsenen, gestandenen Persönlichkeiten, die nicht anders können, als auf diese Weise Reissaus zu nehmen. Die zwei Fliehenden sind unsere Protagonisten Luise und Leopold, das später so bekannte Geschwisterpaar: Erzherzogin Luise von Österreich-Toskana und Kronprinzessin von Sachsen und Erzherzog Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana. Sie ist zum Zeitpunkt des Geschehens 32 Jahre alt, er 34. Eigentlich tragen sie die adelsüblichen Namenskaskaden: Sie hat nicht weniger als elf Vornamen, nämlich Luise Antonia Maria Theresia Josepha Johanna Leopoldine Karolina Ferdinande Alice Ernestina; er bringt es sogar auf zwölf Vornamen, mit vollem Namen heisst er Leopold Ferdinand Marie Joseph Johann Baptist Zenobius Ruprecht Ludwig Karl Jacob Vivian.

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      Leopold und Luise in jungen Jahren: Sie sorgen für den Skandal des Jahres.

      Luise und Leopold, um ihre üblichen Kurznamen zu verwenden, haben in aller Heimlichkeit ihre Koffer mit den allernötigsten Kleidern gepackt, sie hat auch noch ihren Schmuck mitgenommen – als Angehörige des Habsburger Hochadels, die für gewöhnlich mit unzähligen Koffern und Kisten, Taschen und Schachteln reisen, bedeutet das eine grosse Umstellung und zeigt die Not, in welcher sich die beiden befinden. Bald versetzen sie den Adel in Aufruhr und werden in ganz Europa bekannt.

      Ja, sogar darüber hinaus. Selbst der New York Herald wird über sie und ihre klandestine Flucht berichten.

      Es ist nachts um halb ein Uhr, als Luise und Leopold über eine Bedienstetentreppe vom Palast in den Schlosshof und in die kalte Winternacht gelangen; das Thermometer zeigt in dieser klaren Mondnacht eisige 16 Grad unter null. Die fliehenden Geschwister steigen vor der Salzburger Residenz in eine geschlossene Kutsche, an die zwei Araberpferde geschirrt sind. Luise trägt ein warmes, schwarzes Kleid aus Serge-Gewebe, diesem robusten Wollstoff, dazu eine Boa um den Hals und einen Pelzmuff, um die Hände darin warmzuhalten. Miteinander besteigen sie die heimlich bestellte Kutsche, die rund eine Stunde für die Fahrt von Salzburg zum Bahnhof Hallein benötigt. (Dass Luise später in ihren Memoiren von einer dreistündigen Kutschenfahrt berichtet, ist wohl dem subjektiven Empfinden geschuldet.)

      Vor zwei Uhr nachts treffen die Geschwister am nächtlich verlassenen Bahnhof ein. Der Zug fährt erst um 3.45 Uhr, deshalb setzen sie sich in den einzigen geöffneten Raum zu dieser Stunde, in einen Wartesaal dritter Klasse, mit Holzbänken ohne Rückenlehnen, dort haben sie sich zuvor wohl noch nie aufgehalten. Leopold ist gross gewachsen, er ist ein stattlicher Mann; das in die Länge gezogene Gesicht und die hohe Stirn mit den Geheimratsecken, in der Mitte der grosse Schnauz an dessen Enden, die sorgfältig nach oben gezwirbelt sind, fingert er jetzt vielleicht nervös herum. Luise zeigt in jeder Situation Kontrolle im Körper, sie hat eine bewusste Haltung, streckt Rücken und Nacken durch, sodass man ihr die Aristokratin ansieht; sie hat ein freundliches, rundes Gesicht mit wachen Augen und wird, um ihre Aufregung in dieser kalten Nacht zu überdecken, die Hände im Muff gerieben haben.

      Vielleicht haben sich Luise und Leopold nochmals ihre persönlichen Fluchtgründe erzählt, sie redeten womöglich über ihre unglücklichen, nicht gesellschaftskonformen Lieben, die sie ins Unglück stürzten und die auf komplettes Unverständnis der näheren und weiteren Umgebung stiessen, wie wir noch sehen werden.

      Eine Bahn mit vertrautem Namen

      Hier in Hallein startet die Salzburg-Tiroler-Bahn, die auch «Erzherzogin-Gisela-Bahn» heisst. Natürlich kennen Luise und Leopold diese Gisela, welche die zweite Tochter von Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Elisabeth, besser bekannt als Sisi oder Sissi, ist. Gisela trägt den Titel einer Erzherzogin von Österreich und einer Prinzessin von Bayern, sie ist damit eine Verwandte von Luise und Leopold, denn sie – die Flüchtigen – sind ebenfalls Habsburger Hochadlige, nur eben von einem anderen Stamm, von jenem der Toskaner. Dennoch kennt man sich von royalen Empfängen, Festtafeln und Banketten. Während Gisela einen bayrischen Adligen heiratete, mit dessen Zweig sie mütterlicherseits verwandt ist, musste auch Luise standesgemäss und taktisch klug heiraten, nämlich den sächsischen Thronfolger Friedrich August III. Das Einheiraten ins Königreich Sachsen passte politisch ins Konzept, so wurde sie mit 21 Jahren die Gattin von Kronprinz Friedrich August III. und damit Kronprinzessin von Sachsen, auch wenn sie ihren Mann nie liebte. So liegt die Vermutung nahe, dass Luise in der kalten Nacht auf dem Bahnhof Hallein mit ihrem Bruder über das Leben am Hof in Dresden sprach. Wie kontrolliert sie sich vom Hofstaat fühlte. Wie ihr Schwiegervater sie ständig kritisierte.

      Dass sie ihre Kinder nicht stillen durfte.

      Ihr das Radfahren untersagt war.

      Sie nicht selbst einkaufen durfte.

      Sie ständig zu hören bekam:

      «Das gehört sich nicht für eine Kronprinzessin.»

      Sie beklagte wohl die fehlende Unterstützung seitens ihres Gatten Friedrich August. Und vielleicht schwärmte sie, die 32-Jährige, auch von André Giron, dem 24-jährigen Sprachlehrer ihrer ältesten Kinder, einem schnauztragenden Schönling, in den sie sich so sehr verliebt hat. Weil ihr alles zu eng war, aber auch seinetwegen, hat sie Dresden verlassen – und damit auch den königlichen Hof, ihre Stellung, ihren Ehemann und ihre fünf Kinder.

      Was die Geschichte noch brisanter

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