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Der kunstfertige Fälscher. Maria Attanasio
Читать онлайн.Название Der kunstfertige Fälscher
Год выпуска 0
isbn 9783949558030
Автор произведения Maria Attanasio
Жанр Языкознание
Серия Alltagshelden
Издательство Bookwire
Paris war, wie für jeden Studenten an der Akademie, auch für Paolo und Santi die Utopie von Leben und Kunst schlechthin: Sie hatten sich geschworen, nach dem Studium zusammen dorthin zu gehen.
Sie fanden einen Kompromiss: zuerst ein kurzer Besuch der Ausstellung, danach die Versammlung. In der Galerie dann trennten sich ihre Wege. Santi brachte wie immer die Dinge rasch hinter sich. Paolo verweilte, um die kleinen Skulpturen von Schuhmachern, Dienerinnen, Kindern, Wäscherinnen in Augenschein zu nehmen. Lange verharrte er vor der Figur eines Straßensängers mit zerlumptem Mantel und Gitarre in der Hand, das Gesicht von einem Schlapphut verschattet. Paolo meinte, einen Schrei der Ohnmacht zu hören: eine quälende Sehnsucht ohne Aussicht auf Erlösung, wie das Leben hätte sein sollen und es doch nicht war. Diesem Sänger fehlte nicht nur die Arbeit, sondern auch die Freude am Gesang. Draußen vor der Galerie stritt er später heftig mit Santi, der in der Kälte auf ihn gewartet hatte und dann beleidigt, sich dem Freund widersetzend nach Hause ging. »Eine Ausrede! In Wahrheit hast du Angst«, rief ihm Paolo verächtlich hinterher. So machte er sich allein auf den Weg zur Versammlung, die bei seinem Eintreffen bereits in vollem Gange war.
In das dichte Schweigen des Publikums fielen die Worte der jungen Russin8 wie Gluttropfen und umrissen die zukünftige Landkarte der Geschichte: der eines 20. Jahrhunderts, das Ausbeutung und Privilegien abschaffen würde und bereits vor der Türe stand: In Russland, in Frankreich, auch in Italien waren Bauern, Arbeiter, Intellektuelle auf dem Weg zur Revolution, denn, so schloss die Rednerin mit bebender Stimme, »eine Revolution ohne umfassende und glühend vorangetriebene Zerstörung kann es nicht geben, eine Zerstörung, heilsam und fruchtbar, denn nur aus ihr und nur durch sie können neue Welten erschaffen und geboren werden«9.
Mit einem Schlag wurde aus der Vision, die Paolo in einer Augustnacht des vorangegangenen Sommers gehabt hatte, eine klare Vorstellung.
Turi war es gewesen, der ihn in die Paläste der Aristokratie eingeführt hatte, Turi, mit dem er, wann immer er von der Akademie nach Hause kam, trotz Vorhaltungen und Murren der Eltern seine Zeit verbrachte: In Maruzellas Ausschank tranken sie dann Wein, stärkten sich mit weißen Bohnen, im Tausch gegen ein paar Skizzen. Zusammen sah man sie auch auf den exklusiven Empfängen des hochtrabenden Adels, bei denen jedoch auch Künstler Zutritt hatten und oftmals an der Gestaltung der Beleuchtung und des Bühnenbilds beteiligt waren. Auf jenem Fest im August waren sie alle im Palazzo Libertini zugegen: Bildhauer, Dichter, Musiker und Maler, und obgleich Paolo sich mit aller Kraft danach sehnte, wagte er es nicht, sich ihnen zu nähern.
Turi und Paolo wurden gleich nach ihrem Eintreffen, noch vor dem mitternächtlichen Tanz, in einen Saal geleitet, wo sich vornehme Damen am Klavier abwechselten. Turi, der verrückt nach Musik war und sämtliche Opern, Sängerinnen und Sänger kannte, wandte sich degoutiert ab und ging ans Buffet. Paolo blieb, an den großen Marmorkamin gelehnt, bis zum Auftritt der Baronin, die auf der Harfe Auszüge aus der Oper Faust spielte. Ein leichtes Atmen hob ihr Tablier aus rotem, mit goldenen Blumen besticktem Brokat über dem Gewand aus weißem Damast. Mythisch und zeitlos, wie eine griechische Vasenmalerei.
Die Nacht war warm. Grüppchen von Männern und Frauen verließen den Ballsaal und ergingen sich auf der schwach beleuchteten Terrasse, über die Schatten hinweghuschten, wie sie von lokalen Künstlern entworfen waren — von Bäumen, fliehenden Tieren, Barken auf der Fahrt über ein virtuelles Meer: ein dahintreibendes Schiff auf dem undurchdringlichen Schwarz der Piazza, die sich Stunden später mit Tagelöhnern füllte, die hofften, zu einem Arbeitseinsatz gerufen zu werden. Paolo sah Hacken, Sicheln, Jätmesser an der Fassade hinaufklettern, in die barocken Salons eindringen, mit der düsteren Farbe der Not den Stuck, die Tänze, den hellen Seidenglanz der Tapeten verdunkeln, während die Dame an der Harfe, ungerührt von allem, ihr Spiel fortsetzte.
Wenige Stunden später entdeckte die Hausherrin beim Durchqueren eines kleineren Saals etwas abseits den jungen Ciulla, der mit Zeichnen beschäftigt war. Sie beugte sich nach vorn, um die Skizze zu betrachten. »Das bin ja ich!«, rief sie mit Staunen und Bewunderung aus. Während alles um ihn herum versank, hörte sich Paolo mit gezierter Stimme sagen: »Zu gütig, Baronin, stets zu Ihren Diensten.«
Und Liebesdienst wurde ihm der erregende Gedanke an ihre Finger auf den Harfensaiten, während er einsam sich Lust verschaffte und Männergesichter sich über dieses Bild legten, damit verflossen, und einmal sogar — gefolgt von großen Schuldgefühlen und außerordentlicher Wollust — das schlichte Antlitz seiner Mutter auftauchte. Platonisch und tröstlich sollte ihn diese geheime Passion noch über viele Jahre begleiten, selbst als ihm die Welt der chinesischen Schatten und raffinierten Roben, die er zusammen mit Caltagirone hinter sich gelassen hatte, schon sehr fern war.
An jenem Abend im Winter 1887 fand an der Seite des schneeweißen Antlitzes der Baronin in Paolos Herzen und Gedanken das vor Leben sprühende von Anna Kuliscioff seinen Platz. Und dazu die Gewissheit, dass der Welt Angelpunkte zwei waren: die Macht der Gerechtigkeit und die Wahrhaftigkeit der Schönheit.
Nach seinen zwei römischen Jahren ging Paolo Ciulla nach Neapel, um an Italiens bedeutendstem Institut der Schönen Künste sein Studium zu Ende zu bringen. Doch seinen Abschluss machte er mitnichten. Mitten im Jahr 1888 beorderte ihn ein Telegramm nach Caltagirone zurück, wo seine Mutter ganz plötzlich gestorben war; nach dem Tod ihres erblindeten, an Diabetes erkrankten Mannes hatte sie ein Jahr lang mit unerwartetem Elan die Geschäfte nebst dem Haushalt weitergeführt; davon war sie nicht abzubringen gewesen, denn der Sohn sollte um jeden Preis seine Studien beenden. Nach ihrem Tod musste er als Ältester trotz seines Widerwillens die Geschicke der Familie lenken. So brachte er die halbwüchsige Schwester in einem Mädchenpensionat unter und vertraute die Leitung der Ladengeschäfte dem Bruder an, der sie bereits ein paar Jahre später wieder schließen wird, um in die Kavallerie einzutreten.
Paolo entschied, seine Passion für die Fotografie zum Beruf zu machen. Mit dem Ertrag aus dem Verkauf eines Grundstücks eröffnete er ein Fotoatelier, wo er am Ende auch selbst einzog. In den Abendstunden verwandelte sich sein Reich in eine politische Experimentierwerkstatt; es entbrannten dort hitzige Diskussionen mit Turi und den anderen Freunden, den Überläufern aus der alten, den Honoratioren allzu ergebenen Arbeitergesellschaft, über den neuen Kurs der Geschichte und die Unvermeidlichkeit der Revolution. Sie allein war imstande, davon war er felsenfest überzeugt, die alte Welt der erdrückenden Steuerlasten und der Barone hinwegzufegen. Denn auch in Caltagirone, wo alles stillzustehen schien, reifte im Volk langsam ein neues Bewusstsein heran. Und der Kluft zwischen Bewusstsein und Bedürftigkeit entsprang der Funke der Revolution.
Turi gab ihm Recht, merkte jedoch an, dass es in Erwartung der Revolution wichtig sei, den Arbeitern ein unmittelbares politisches Ziel vorzugeben: die Gründung eines neuen Arbeiterzirkels, der imstande wäre, bei der Eroberung des Rathauses das Monopol der Honoratioren furchtlos herauszufordern, jedoch ohne anarchistische