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Beirut für wilde Mädchen. Chaza Charafeddine
Читать онлайн.Название Beirut für wilde Mädchen
Год выпуска 0
isbn 9783949558061
Автор произведения Chaza Charafeddine
Жанр Языкознание
Серия Alltagshelden
Издательство Bookwire
Dein Reich komme
Dein Wille ge …
Wie im Himmel, so auf …
Unser täglich Brot gib uns …
Und vergib uns …
Wie auch wir ver …
Und führe uns nicht in …
Sondern erlöse uns von …
Denn dein ist das …
Und die …
Und die …
In Ewigkeit.
Amen.
Meistens sprachen wir das Vaterunser auf Französisch. Als wir es auch auf Arabisch gelernt hatten, trug ich es einmal zu Hause meiner Mutter vor. Sie wunderte sich, als sie erfuhr, dass wir dieses Gebet jeden Morgen in der Schule aufsagen mussten. »Ab jetzt«, sagte sie, »sprichst du unser Gebet, wenn deine Mitschülerinnen ihres sprechen«, und sie betonte das »unser« auf besondere Weise. Nun musste ich unser Gebet erst einmal unter ihrer Aufsicht auswendig lernen. Meine Mutter meinte, es genüge, wenn ich es im Stillen aufsage, ohne dabei meine Lippen zu bewegen. Aber was, wenn Mademoiselle Najwa merkte, dass ich ein anderes Gebet sprach? Um das zu vermeiden und zur Tarnung betete ich von nun an wie folgt:
Im Namen Allahs, des Barmherzigen und Gnädigen
… dem Herrn der Welten
… Tag der Auferstehung
Dich beten wir an und dich bitten wir …
Weise uns den rechten Weg …
Den Weg derer … nicht derer … und nicht derer.
Und am Ende bekreuzigte ich mich und murmelte: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. — Amen.«
So konnte ich es ohne große Mühe beiden Frauen rechtmachen: meiner Mutter, weil ich sie liebte, und Mademoiselle Najwa, die mich zwar nicht liebte, aber mir nun auch nicht böse sein konnte.
Der Katechismus
Der christliche Religionsunterricht fand donnerstags um 14 Uhr statt. Zu Beginn des Schuljahres kam eine Lehrerin in unsere Klasse und verlas eine Liste, auf der die Namen der meisten meiner Mitschülerinnen standen. Die Genannten standen auf und verließen mit der Lehrerin den Raum. Wir, die wir nicht aufgerufen waren, vielleicht sechs oder sieben von dreißig Schülerinnen, mussten sitzenbleiben und sollten irgendetwas malen, bis unsere Kameradinnen in einer Stunde wieder zurück wären. Farbstifte bekamen wir jedoch keine, lediglich die Aufgabe: »Malt ein Haus, malt eure Eltern, malt Bäume oder Vögel oder irgendwas.« Mademoiselle Najwa, die noch in der Klasse war, fügte der Anweisung mit ihrer schrillen Stimme hinzu: »Und während ihr zeichnet, will ich keinen Mucks hören! Keine verlässt ihren Platz! Wehe, ihr zeichnet voneinander ab! Das ist zwar kein Unterricht, aber auch keine Spielstunde! Keinen Ton! Verstanden?!!!«
In den Wochen darauf kam die Religionslehrerin ohne die Namensliste aus. Es genügte, dass die auserwählten Mädchen sie in die Klasse kommen sahen, schon packten sie ihre Siebensachen und folgten ihr. Ich glaube nicht, dass ich neidisch auf meine Mitschülerinnen war, weil sie jede Woche demütig in ihre Katechismusstunde abwanderten. Aber mich interessierte brennend, was in ihrer Chorstunde vor sich ging. Und so bat ich meine ehemalige Klavierlehrerin Sœur Marie eines Tages, ob ich einmal zur Chorstunde mit in die Kapelle gehen dürfe. Dass ich nicht so begierig darauf war zu erfahren, was in der Religionslehre vonstatten ging, hatte auch mit der plötzlichen Verwandlung zu tun, die meine Mitschülerinnen durchliefen, sobald sie abgeholt wurden. Wie unter einer schweren Last erhoben sie sich in alphabetischer Reihenfolge und ließen die Köpfe hängen, so als erwarte sie dort eine Maßregelung für irgendein Vergehen.
Nein, was dort im Einzelnen geschah, das musste ich nicht dringend wissen. Aber wenn die Chorstunde anstand, dann sprangen die Mädchen so fröhlich und erwartungsvoll auf, dass ich mir vorstellte, sie gingen direkt auf Himmelfahrt — ohne dass ich eine Vorstellung davon hatte, was das Wort eigentlich bedeutete. Meine Phantasie hob mich zusammen mit meinen offenbar innerlich heftig aufgewühlten Mitschülerinnen über die Sitzbänke, die Lehrerin und die Tafel, ich entschwand ihren Blicken, zog die Tür hinter mir zu, schwebte durch die langen Gänge mit den vielen verschlossenen Türen, lugte durch die kleinen Fenster darüber und schaute nach, ob die Nonnen bekleidet oder nackt badeten, ob sie Büstenhalter trugen und wie die denn aussahen, ob sie Brustwarzen hatten oder ohne auf die Welt gekommen waren. Mich interessierte auch, ob sie dunkle Achselhaare hatten oder ob sie sie entfernten, wie meine Mutter und meine Tanten, die sich regelmäßig zu diesem Zweck trafen und sich mit wohlriechender Honigpaste die Haare von den Beinen rissen und dabei vor Schmerz jaulten. Aber sie taten es immer wieder, so als würden sie die Qualen jedesmal vergessen. Badeten die Nonnen zusammen oder allein? Oder war eine von ihnen dazu abgeordnet, die anderen zu überwachen, damit sie nichts taten, was Mère Marie Madeleine erzürnen könnte? Trugen sie Slip oder weiße bis zum Knie reichende Unterhosen wie Radhiya, die Frau, die immer ins Haus meines Großvaters kam und bei deren Eintreffen die Frauen riefen: »Radhiya ist da! Alle Frauen Kopftücher auf!« Für uns Junggemüse war das seltsam. Denn Radhiya trug ein Kleid und ein Kopftuch, war unserer Auffassung nach also eine Frau, und soweit wir wussten, brauchten Frauen ihr Haar nicht voreinander zu verbergen.
»Radhiya, seht sie euch an, nicht Frau noch Mann ist sie!«, hörten wir die Frauen untereinander tuscheln. Diese Worte gingen uns nicht mehr aus dem Kopf, aber wir verstanden nicht, was damit gemeint war. Bis wir Radhiya selbst eines Tages baten, sie möge uns ihr Geheimnis enthüllen. Ohne zu zögern, hob sie ihren schwarzen Rock hoch, zog ihre lange weiße Unterhose bis zu den Füßen herunter und entblößte seelenruhig ihren Unterleib. Dazu bleckte sie ihre Zähne und sagte heiser: »Sieh mal an, nicht Frau noch Mann!« Dann lachte sie schallend und wollte, den Blick zur Decke gerichtet, schier nicht mehr aufhören. Aber außer ihrem großen offenen Mund und ihrem knöchernen, zur Decke gewandten Gesicht im Dauerlachen sahen wir, anders als erwartet, nichts Interessantes. Radhiya hatte nichts, was wir nicht auch hatten.
Wir Mädchen gestanden uns unsere Enttäuschung nicht ein. Wir sprachen einfach nicht mehr über das Thema und begriffen nicht, was an Radhiya so besonders sein sollte. Aber ihr unverhüllter Unterleib, ihr gen Zimmerdecke gerichteter Blick, ihr Gelächter kamen mir wieder in den Sinn, als wir in der Freistunde malen mussten, und ich mutmaßte, dass auch Sœur Marie-Antoinette und Marie-Thérèse »nicht Frau noch Mann« seien. Bei Sœur Bernadette war ich mir sogar ganz sicher. Trotz ihrer Riesenbrüste hatte sie eine Männerstimme und obendrein einen unübersehbaren Bart! Bei seinem Anblick fragte ich mich immer, weshalb sie ihn nie abrasierte; zumindest vor den Schulausflügen, auf denen wir dann Fremden begegneten, könnte sie das doch tun.
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