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      Götz Großklaus, geboren 1933, Dr. phil. Prof. em. für Neuere Deutsche Philologie an der Universität (TH) Karlsruhe; Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie; Staatsexamen an der Universität Hamburg; Promotion an der Universität Freiburg; Habilitation an der Universität Karlsruhe (TH); Mitbegründung und kollegiale Leitung des Instituts für Angewandte Kulturwissenschaft an der Universität Karlsruhe (TH) (1983 – 1990); Assoziierter Professor für Mediengeschichte an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe; Gastprofessuren an der Cairo University (1974 – 1976), der University of Melbourne (1983) und der Universität Istanbul (1995). Hauptarbeitsgebiete: Vergleichende Literaturwissenschaft, Kultursemiotik, Mediengeschichte und -theorie. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Natur-Raum, Medien-Zeit, Medien-Raum, Medien-Bildern, zur Kulturgeschichte der Natur sowie zur Literatur in einer industriellen Kultur. Letzte Buch-Veröffentlichungen: „Heinrich Heine. Der Dichter der Modernität (2013)“, „Das Janusgesicht Europas. Zur Kritik des kolonialen Diskurses“ (2017).

      Götz Großklaus

      Stillstände

      Das Gedächtnis der Kriegskinder

       1939 – 1989

      Lindemanns

      Vorwort

      Wenn man von der Generation der „Kriegskinder“ sprechen will, hat man zumeist die zwischen 1930 und 1940 Geborenen vor Augen; schon des Öfteren wurde sie als die vergessene Generation bezeichnet und zwischen der prominenten Generation der schon zum Wehrdienst einberufenen sog. „Flakhelfer“ und der zahlreichen Generation der Nachkriegskinder kaum wahrgenommen.

      Aus der Perspektive eines dieser „Kriegskinder“ schildert der vorliegende Text in neun exemplarischen Episoden Schlüssel-Erlebnisse, wie sie für diese Generation typisch und prägend waren. Versucht wird, in Thematisierung bestimmter lebens- und zeitgeschichtlicher „Stillstände“ so etwas wie Wendepunkte und Zäsuren sichtbar werden zu lassen, von denen aus die individuelle und die kollektive Geschichte einen anderen Verlauf nehmen sollte.

      Die autobiographischen Lebensstationen stehen somit exemplarisch für Lebens-Stationen einer ganzen Generation zwischen den Jahren 1939 und 1989: dem Kriegsausbruch und dem eigentlichen Kriegsende mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teil-Staaten.

      Götz Großklaus

      Karlsruhe, im November 2020

      Im Schein der Wintersonne

      22. Februar 1944

      Die Piloten und Besatzungen der die kleine Stadt am Nordrand des Harzgebirges anfliegenden B17-Bomber der 8. US-Air Force hatten an jenem 22. Februar des Jahres 1944 – einem sonnigen, wolkenlosen Wintertag – eine herrliche Sicht auf die schwarzen Harzwälder, den leuchtenden Gipfel des Brockens und auf die vor ihnen auftauchenden Umrisse einer menschlichen Siedlung – ihr „target of opportunity“.

      Zu diesem Augenblick stand er auf dem Balkon des großväterlichen Hauses in Wernigerode am Harz – über sich den von Kondensstreifen zerfurchten Himmel – sein Blick von oben in die Weite der nördlichen Tiefebene und auf die Altstadt unten im Tal – Straßen und Dächer mit einer leichten Schneedecke im Schein der Wintersonne – für viele Stadt-Bewohner werden das die letzten Augenblicke und Minuten ihres Lebens sein.

      Seit die Stadt Wernigerode zur Lazarettstadt deklariert und einige Dächer mit dem „Roten Kreuz“ gekennzeichnet worden waren, wähnte man sich in trügerischer Sicherheit. Auch die letzte der Sirenen hatte zu dieser Mittagsstunde gegen 14 Uhr im Konzert aller Sirenen schon längst ihr Entwarnungsgeheul absinken und langsam verklingen lassen.

      Aufgeschreckt durch das plötzlich in diese Stille einbrechende Dröhnen von Flugzeugmotoren nahm er ein metallisches Aufblitzen am Himmel wahr, in Sekundenbruchteilen gefolgt von einem pfeifenden, dann fauchenden Geräusch, dem Donnerschlag einer Detonation und dem augenblicklich über der Altstadt aufsteigenden Rauchpilz. Das Haus des Großvaters erbebte in seinen Grundfesten. In Panik war er die Treppen hinuntergestürzt in den Keller. Er verharrte dort regungslos wie betäubt im Stillstand. Der Zehnjährige wusste nicht, wie ihm geschehen war. Der äußersten Beschleunigung, in der die Schockmomente des anschwellenden Dröhnens, des blendenden Blitzes, des grellen Pfeifens, des sich dem ganzen Körper mitteilenden Bebens der Detonation, der augenblicklich atmosphärischen Verdüsterung durch den sich aufblähenden Rauchpilz aufeinander folgten, war sein Wahrnehmungsvermögen nicht gewachsen: Sein Hirn wiederholte ihm das Sekundengeschehen in der quälenden Dehnung eines Zeitlupenfilms – und legte eine tiefe Gedächtnisspur. Erst nach und nach, als die Betäubung wich und die Wiederholung ausblieb, gelang es ihm, die einzelnen Schockmomente in die Momente eines zusammenhängenden Geschehens zu übersetzen: Offenbar waren gegen alle Erwartung in der Entwarnungszeit aus heiterem Himmel Flugzeuge über der Stadt erschienen, deren metallische Körper es waren, die im Lichte der Wintersonne kurz aufblitzten, während gleichzeitig die metallische Bombenlast pfeifend und fauchend niederging und die Explosionen jenen Rauchpilz aufsteigen ließen, der einen schon nicht mehr heiteren Himmel, der seine Unschuld längst verloren hatte, vollends verdüsterte.

      Durch die geöffnete Kellertür starrte er auf die dichte Rauchdecke, die jetzt über der Stadt lag. In seiner Vorstellung musste alles Leben unter dieser Decke erstickt sein, die Stadt in Schutt und Asche versunken sein. Er empfand keine Angst. Die Plötzlichkeit und die rasende Geschwindigkeit der Gewalteinwirkung ließen irgendwelchen Angst-Gefühlen keine Zeit. Nur ein kurzfristiges Zittern, das seinen Körper wie einen Fieberschauer erfasste, vermittelte dem Zehnjährigen ein noch undeutliches Gefühl hautnahen Bedrohtseins, der Schutzlosigkeit gegenüber einer übermächtigen Gewalt. Er erfuhr – ohne sich dessen bewusst zu sein – eine tiefer gehende Erschütterung seines Urvertrauens in eine immerwährende Geborgenheit. Gerade die Kellerräume des großväterlichen Hauses hatten für ihn, die Mutter und seine Brüder, in den vorangehenden Jahren der nächtlichen Fliegeralarme und der bedrohlichen Überflüge die Bedeutung von Flucht- und Schutzhöhlen angenommen; so versteckten und verkrochen sie sich unten in der Kellerhöhle, während oben tausend Lancaster-Bomber über Haus und Stadt hinwegflogen. Das Stunden andauernde, an- und abschwellende, mal dumpfe, mal heulende Dröhnen einer Masse von Flugzeugmotoren setzte alles in Vibration und löste in ihm quälende Angstgefühle aus, die er bis zu diesen Nächten nicht gekannt hatte.

      Jetzt, während dieser Minuten von 14:02 bis 14:04 des 22. Februar 1944, schien es, als habe der Schock alle Angstgefühle in einem Punkt der Exaltation gerafft und konzentriert – und als habe diese Exaltation die Angst in ihm ausgebrannt wie ein Geschwür. Er fühlte sich auf irgendeine Weise ins Freie geworfen. Rechenschaft darüber, was in ihm vorging, konnte sich der Zehnjährige nicht geben. Erst Jahrzehnte später sollte sich offenbaren, dass die Ausbrennung Wunden hinterlassen hatte. In Alpträumen erschien das Geschehen des 22. Februar in einer fremden Landschaft.

      Man rief nach ihm, und er erwachte aus seinem Stillstand, verließ den Keller und ging noch einmal mit dem Großvater auf den Balkon; sie blickten auf die unter Qualm und Rauch verschwundene Stadt hinunter. Zu diesem Zeitpunkt hatte das kleine US-Geschwader von 19 B17-Bombern die nördlichen Harzränder längst in Richtung auf die nordwestlich gelegenen Flugbasen in Südengland überflogen. Die Piloten konnten Anfang 1944 schon davon ausgehen, unbehelligt von deutschen Abwehrjägern ihre Flughäfen zu erreichen. Ihren offiziellen Auftrag im Rahmen der sog. „Big Week“ – eines Großangriffs auf Zentren der deutschen Luftrüstungsindustrie – hatten sie mit der Bombardierung der Wernigeröder Altstadt verfehlt; die Rautal-Zulieferwerke und ein kleinerer Junkers-Zweitbetrieb an der Peripherie wurden nicht getroffen. Dem präzisen Ausklinken der Bomben über dem Altstadt-Zentrum fallen 191 Zivilpersonen zum Opfer: in diesem Fall eher zufällig als „target of opportunity“. Die Wahrnehmung der jugendlichen US-Piloten und Bombenschützen war wesentlich gerichtet auf das, was ihnen die Ziel-Koordinaten und die Navigations-Instrumente vorgaben; jetzt wollen sie vor allem nur noch zurück zu ihrem Ausgangs-Flughafen. Der von ihnen verursachte Tod von 191 Menschen ereignete sich für sie wahrnehmungslos, bewusstlos als technischer Vollzug aus großer Ferne.

      An einem der nächsten Tage nach dem Angriff kommt er auf seinem Schulweg an der Turnhalle des Lyzeums vorbei, wo die 191 Toten des 22. Februar aufgebahrt liegen: für den Schüler eine bedrückend hohe Zahl, gemessen an

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