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Im wilden Balkan. David Urquhart
Читать онлайн.Название Im wilden Balkan
Год выпуска 0
isbn 9783843800709
Автор произведения David Urquhart
Жанр Книги о Путешествиях
Серия Edition Erdmann
Издательство Bookwire
Ein Europäer wird in der Türkei das Eigentum für nicht sicher vor dem gewaltsamen Zugriff halten, ein Türke das Eigentum in England für nicht sicher gegenüber dem Gesetz.
Der Erstere wird sich wundern, wie das Gesetz ohne Juristen gehandhabt werden könne; der Letztere wird sich wundern, wie man mit Juristen überhaupt Gerechtigkeit erhalten könne.
Der Erstere wird erschreckt werden über den Mangel einer Kontrollinstanz gegenüber der Zentralregierung; den Letzteren wird das Fehlen einer Kontrollinstanz gegenüber der lokalen Verwaltung bestürzen.
Wir können nicht begreifen, dass eine Unabänderlichkeit allgemeiner Staatsgrundsätze dem Wohlbefinden zuträglich wäre; die Türken können nicht begreifen, dass das Gute und Rechte der Abänderung fähig sei.
Der Engländer wird den Türken für unglücklich halten, weil er keine öffentlichen Vergnügungen hat; der Türke wird den für einen unglücklichen Menschen halten, der Vergnügungen außerhalb des Hauses bedarf.
Der Engländer wird den Türken für geschmacklos erachten, weil er keine Gemälde hat; der Türke wird den Engländer für gefühllos halten, weil er die Natur nicht achtet.
Dem Türken graut vor Liederlichkeit und unehelichen Kindern, dem Engländer vor Vielweiberei.
Den Ersteren wird unsere hochmütige Behandlung Untergebener anwidern, den Letzteren wird der Sklavenhandel empören.
Sie werden sich gegenseitig religiös-fanatisch schelten – moralisch-ausschweifend – unsauber in Kleidern – unglücklich in der Entwicklung ihrer Sympathien und ihren Geschmacks – politische Freiheit verschiedentlich entbehren – jeder wird den anderen für unpassend in guter Gesellschaft halten.
Der Europäer wird den Türken für prunkhaft und heimtückisch erklären, der Türke den Europäer für albern und gemein.
Man kann sich daher denken, wie interessant, freundschaftlich und übereinstimmend der Verkehr zwischen beiden sein muss. Der Beobachter, der in neutraler Stellung diese gegenseitigen Beschuldigungen hört, wird vielleicht daraus schließen, dass, wenn Menschen herb über ihre Mitmenschen aburteilen, sie von zehn Malen neun Mal Unrecht haben.
Es liegt viel Komisches, auch wirklich nicht weniger Ernsthaftes in den erhaltenen Eindrücken und den gezogenen Schlüssen, wenn Bewohner dieser verschiedenartigen Kreise des Daseins einander besuchen. Europäische Reisende sind in Europa nur mit der Gesellschaft in Berührung gekommen, die von ihren Zinsen lebt, und nun, im Orient, werden sie von dieser Gesellschaft ausgeschlossen und als Untergeordnete von oben herab angesehen; man lässt sie sich behelfen, so gut sie können, und Vergleiche anstellen. Asiaten der niederen Stände, die Europa besuchen, sind der Regel nach betroffen und empört von der Rohheit und Unanständigkeit, dem Schmutz und dem Hang zum Trinken und Spielen, die sie unter Leuten ihres Standes finden, und werden schmerzlich betroffen von der strengen Scheidelinie zwischen ihnen und den Höheren. Asiaten höheren Ranges richten ihre Gedanken mehr auf Heeres- und Seemacht, auf ihren wissenschaftlichen Fortschritt, und kehren in der Regel als deren enthusiastische Bewunderer zurück. Der Europäer aber kommt in der Regel mit den abendländischen Gewohnheiten neuerer Zeiten, das heißt, mit Ansichten und Meinungen über Gegenstände. Ich möchte glauben, dass dies die größte Veränderung sei, die im gegenwärtigen Zustand der Welt einem Sokrates oder einem Aristipp auffallen würde, könnten sie aus dem Hades wieder auferstehen. Ein Mensch, der Meinungen über alle Gegenstände hat, ist das fürchterlichste Tier, das man auf die Gesellschaft loslassen kann, wenn seine Schlussfolgerungen materielle Folgen nach sich ziehen.
Wie kann man aber erwarten, dass zwei Engländer auch nur über einen einzigen Gegenstand dieselbe Meinung haben? Ja, wo ist ein Engländer zu finden, der die Unfehlbarkeit seiner eigenen Meinung bezweifelt, oder derjenige, der sich in politischen Angelegenheiten nicht als Orakel seiner Sekte oder seiner Partei ansieht? Die Reisenden aus Großbritannien sind die alten Engländer nicht mehr; sie sind nur Whigs, Tories und Radikale1. Die im Vorhinein festgesetzten Meinungen eines Engländers also, der den Orient besucht, werden zu Hindernissen an seiner Erforschung des besuchten Landes oder zur Ursache dafür, die Tatsachen, die er sieht, falsch aufzufassen. Und das ist so wahr, dass jeder, der in solchen Nachforschungen einige Fortschritte gemacht hat, seine Parteilichkeit mehr und mehr ablegt und fühlt, dass er seine Nachforschungen über Menschen, Sitten und Einrichtungen ganz von Neuem beginnen muss.
Wenn ein Reisender aus fernen Landen in England ankommt und Englands Meinung zu erfahren wünscht über Chemie, Astronomie, Mechanik oder Geologie, so wendet er sich an Faraday, Herschel, Babbage und Buckland2, und jeder Engländer, jeder Europäer wird ihm sagen, er könne keinen besseren Weg einschlagen. Aber nehmen wir an, er wünsche zu wissen, was unsere fortschrittlichsten Meinungen seien über die unermesslich wichtige Wissenschaft der Politik, an wen soll er sich wenden? Sagen wir: an Sir Robert Peel1 – wird ihm nicht die erste Person, mit der er in Berührung kommt, wahrscheinlich erzählen, er hätte sich gerade die dazu am allerwenigsten geeignete Person ausgesucht, und um ihm richtige Begriffe beizubringen, müsste er zu Lord Grey2 gehen? Der nächste wird ihn in gleicher Weise vor beiden warnen und ihm erzählen, Herr Roebuck3 sei die einzig wahre Fundgrube politischer Weisheit! Ist denn aber die Politik des Titels einer Wissenschaft weniger würdig als Geologie, Chemie oder Mechanik?
Glücklicherweise besitzt die Wissenschaft heutzutage Kennzeichen, die dem Forschergeist erkennbar sind, so unwissend dieser auch in dem Gegenstand sein mag, mit dem die Wissenschaft sich beschäftigt, und ohne solche Kennzeichen besteht keine Wissenschaft. Als die Werner’sche und die Hutton’sche Schule4 sich jeden Felsen und jede Schicht bestritten, fühlte man da nicht allgemein, dass die Geologie nicht auf feste Prinzipien gegründet sei? Kaum aber waren die angenommenen Gegensätze vereinigt, kaum hatte man herausgefunden, dass eine gemeinsame Theorie sich auf die bis dahin für widersprüchlich gehaltenen Tatsachen anwenden ließe, so rief jeder Student: Nun ist die Geologie eine Wissenschaft!
Es ist das Kennzeichen der Wissenschaft, dass sie durch die Klassifikation den folgenden Tatsachen die Bedeutung verleiht, wie die Grammatik den Worten; und so wie Verständlichkeit der Sprache die Beachtung der grammatikalischen Regeln bezeugt, so bezeugt das gemeinsame Verständnis der Tatsachen das Wissen derselben, das weit genug gefasst ist, um genau zu sein, und das eben ist die Wissenschaft. Dann, und nur dann, hören die Schüler auf zu zweifeln und die Lehrer sich zu streiten.
Die Politik ist noch keine Wissenschaft, weil sie dieser Kennzeichen entbehrt, entweder aus Mangel an beobachteten Tatsachen oder aus Mangel an einem einer so großen Aufgabe gewachsenen Geist bei denjenigen, die die Tatsachen beobachteten. Wie wichtig ist es demnach, ein neues Feld politischer Forschung zu finden und neue Folgen aus Tatsachen, die getrennt bleiben von früheren ideologischen Vorstellungen und somit den Geist dazu bringen, durch die Beobachtung derselben seine vorgefassten Überzeugungen zu revidieren und zu berichtigen. Die Türkei bietet ein solches Feld, und gerade ihre Schwäche und ihre Krämpfe erleichtern die Anatomie der Teile, wie die Krankheit des Patienten das Urteil über die Gesundheit erleichtert und wirklich nur möglich macht und die Mittel aufdeckt, wodurch sie wieder herzustellen ist.
Kehren wir zu dem europäischen Reisenden zurück. Angelangt mitten unter Gewohnheiten und Einrichtungen, die von denen seines Vaterlandes so völlig verschieden sind, und natürlich unmittelbar von all den Dingen betroffen, die schlechter und niedriger sind als daheim, mag nun diese Schlechtigkeit in der Wirklichkeit oder nur in seiner vorgefassten Meinung von Vortrefflichkeit beruhen, kehren seine Augen natürlich heimwärts zurück, mit einem Gefühl der Zufriedenheit und des Frohlockens, und vom Standpunkt aus, auf dem er steht, von dem sich kleinere Gegenstände verwirren oder verlieren, erhält er eine umfassendere Ansicht, als er vermutlich früher hatte, von den Elementen der Größe seines Vaterlandes. Er rechnet diese ersten Grundsätze einen nach dem andern auf, und dann beginnt er, jeden auf das Land anzuwenden, in dem er sich gerade befindet.
Vielleicht schätzt er zuerst an England die Regierungsform, die geregelte Beschaffenheit der höchsten Gewalt und die geordnete Kontrolle über ihre