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Sie freut sich darauf, in ihrer Freizeit die Tatorte und Schauplätze der Verfolgungsjagden aus den Büchern zu erkunden.

      Zugegeben, sie hat kein Sachbuch oder einen Reiseführer über Schweden gelesen, hat keine Ahnung, wer das Land gerade regiert oder wie die Mentalität der Schweden ist. Was sie weiß, ist, dass die Ermittler in den Schwedenkrimis etwas schwermütig sind, teilweise sogar depressiv und meistens schlecht gelaunt, aber davon einmal abgesehen, werden die Menschen im hohen Norden so viel anders als in Deutschland schon nicht sein. Oder etwa doch?

       »WILDE ERDBEEREN« UND SCHWEDISCHE SVÅRMOD

      Die Schweden neigen zur Melancholie, svårmod genannt. Man sagt, das läge an den langen, dunklen Wintern und den gigantisch hohen Steuern. Keinem anderen ist es so gut gelungen, die Psyche seiner Landsleute darzustellen, wie Ingmar Bergman in seinen Filmen. Mit »Wilde Erdbeeren« schrieb er 1957 Filmgeschichte. In dem Drama geht es um die Frage nach dem geglückten Leben. Der alte Arzt und Wissenschaftler Isak Borg ist mit seiner Schwiegertochter im Auto nach Lund unterwegs, wo er als doctor jubilaris öffentlich geehrt werden soll. Er hat sein Leben der Wissenschaft gewidmet, hat zum großen Teil auf ein soziales Umfeld verzichtet und ist so zum »lebenden Toten« geworden. Seine Schwiegertochter wirft ihm emotionale Gleichgültigkeit und Gefühlskälte vor. Auf dem Weg halten sie an einem verlassenen Sommerhaus an, in dem der junge Isak mit seinen Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten die Sommerferien verbrachte. Er sucht jene Stelle, wo wilde Erdbeeren wachsen, setzt sich auf die Erde und driftet in Gedanken an längst vergangene Tage zurück. In einer Traumszene sieht er seine Verlobte Sara beim Erdbeerpflücken. Sein Bruder Sigfrid kommt hinzu, flirtet mit Sara und küsst sie. Sara hat sich auch im wirklichen Leben für den lebenslustigeren Sigfrid entschieden und diesen geheiratet. Isak hingegen hat Kathrin geheiratet, die später an seiner Gefühlskälte zerbricht. Unterwegs nach Lund passiert so allerhand. Anhalter werden mitgenommen, der alte Arzt döst immer wieder vor sich hin und sieht Szenen aus seiner Vergangenheit, und am Ende ... ja, das wird hier nicht verraten! Auf Schwedisch heißt der Film »Smultronstället«. Smultron ist das schwedische Wort für »wilde Erdbeeren«, ställe bezeichnet den Ort, an dem man sie pflücken kann. Wild wachsende Erdbeeren tauchen in vielen Bergman-Filmen auf. Der Regisseur schien die kleinen, roten Früchte zu lieben. Wie alle Schweden, die sich im Sommer rings um ihr Ferienhäuschen auf Beerenjagd begeben. Wer Glück hat, findet sogar mehr als eine smultronställe.

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       KATHARINA LANDET AUF DER FALSCHEN TOILETTE

      Gemächlich bummelt Katharina nach der Ankunft in Stockholm-Arlanda über den Flughafen. Sie liebt internationale Flughäfen, und warum soll sie sich beeilen? Heute ist Freitag, und sie hat nichts weiter vor, als erst einmal in ihrem neuen Umfeld anzukommen. Sie ist begeistert von dem schönen Ambiente, den hübschen Läden und der Abwesenheit von Hektik, die sie von vielen Flughäfen kennt. Katharina hat ein digitales Ticket für den Arlanda-Express, der den Flughafen mit dem Stockholmer Hauptbahnhof (Centralstation) verbindet. Die Nonstop-Fahrt dauert nur 20 Minuten. Bevor sie sich aber Richtung Expresszug aufmacht, möchte sie erst noch die Toilette aufsuchen.

      Sie hält Ausschau und folgt den entsprechenden Pfeilen zu den toaletter. Alle vier Kabinen sind besetzt. Zeit genug, um sich vor dem Spiegel den Lippenstift nachzuziehen. Sie hört die Toilettenspülung in einer der Kabinen, die Tür geht auf, und im Spiegel sieht sie plötzlich einen Mann, der hinter ihr am Waschbecken steht und darauf wartet, dass er sich die Hände waschen kann. Sie erschrickt und fragt sich, wie sie auf der falschen Toilette landen konnte. Hatte sie tatsächlich nicht auf das Schild vor der Tür geachtet? »Oh, sorry! Ich habe die Toiletten verwechselt«, stottert sie, steckt ihren Lippenstift hastig in die Tasche und eilt aus der Tür. Ein Stück weiter sieht sie Hinweisschilder für weitere Toiletten und geht darauf zu.

      Jetzt bloß nicht wieder denselben Fehler machen, denkt sie. Sie sieht zwei Frauen hineingehen und verzichtet deshalb darauf, aufs Schild zu schauen, denn die beiden werden ja wohl auf die richtige Toilette gehen. Eine Kabine ist frei. Als Katharina herauskommt, um sich die Hände zu waschen, steht ein Mann am Waschbecken. Dieses Mal erschrickt Katharina nicht, denn sie weiß ja, dass sie hier richtig ist. Schließlich sind vor ihr Frauen hinein- und hinausgegangen. »Das hier ist die Damentoilette«, sagt sie auf Englisch zu dem Mann, wobei sie sich einen leicht schnippischen Unterton nicht verkneifen kann. Dass sich ein Nichteuropäer auf die falsche Toilette verirrt, kann ja mal vorkommen, denkt sie, das ist mir in Asien schließlich auch schon mal passiert. Aber der sieht wie ein typischer Schwede aus und müsste die Schilder richtig deuten können. Der Mann jedoch macht keine Anstalten zu gehen, schaut sie nur an, als wäre sie diejenige, die im Unrecht ist, und wäscht sich in aller Seelenruhe seine Hände.

      Als Katharina sich noch fragt, ob er vielleicht kein Englisch versteht, kommt eine Frau herein; sie wundert sich nicht weiter über den Mann am Waschbecken einer Damentoilette, sagt nur »Hej« und verschwindet in einer der Kabinen. Na ja, vielleicht muss man solche Typen einfach ignorieren, denkt Katharina. Als der Mann das Waschbecken schließlich freigibt und die »Damentoilette« verlässt, wäscht auch sie sich die Hände und macht sich kopfschüttelnd auf den Weg zum Arlanda-Express.

       Was ist schiefgelaufen?

      Katharina war zu keiner Zeit auf der falschen Toilette. Da in Schweden aber das Gleichheitsprinzip gilt, akzeptiert das Land seit 2015 offiziell das dritte Geschlecht und hat getrennte Toiletten abgeschafft. Alle gehen jetzt auf eine.

      Im Rahmen der Gender-Debatte hat Schweden das geschlechtsneutrale Pronomen »hen« eingeführt, das am 15. April 2015 in das dem Duden entsprechende Wörterbuch der Schwedischen Akademie (Svenska Akademiens ordlista) aufgenommen wurde und seitdem für Diskussionen sorgt. Vor hen gab es nur die beiden Personalpronomen han (er) und hon (sie). Hen, keinesfalls zu verwechseln mit dem deutschen »es«, bezieht sich auf ein Individuum, ohne dabei das Geschlecht zu benennen. Das Pronomen wird nicht nur für Transsexuelle benutzt, sondern auch, wenn das Geschlecht unbekannt ist oder keine Rolle spielt. Die Debatte um den Gebrauch von »hen« ist gar nicht so neu. Schwedische Sprachwissenschaftler empfahlen bereits in den 1960er-Jahren zur Vereinfachung der Formulierung »er« oder »sie« das geschlechtsneutrale Pronomen hen. In jener Zeit stießen sie damit auf taube Ohren.

      Als der Autor Jesper Lundqvist 2012 in seinem Kinderbuch »Kivi und der Monsterhund« die Hauptfigur mit »Hen« betitelte, war die Aufregung groß. Man warnte vor jugendgefährdender Gender-Hysterie und befürchtete die Abschaffung der Geschlechterunterscheidung. Und weil die Aufregung damals so groß war, besteht heute für niemanden die Verpflichtung, das Wort hen zu verwenden. In Stockholm hingegen wurde das Pronomen schon fünf Jahre vor der offiziellen Anerkennung benutzt. Die Vorschule Egalia hat »er« und »sie« 2010 abgeschafft. Dort gibt es statt »Jungen« und »Mädchen« nur »Freunde«. Die Hauptstädter lieben die geschlechtsneutrale Erziehung der Egalia – die Warteliste auf einen freien Platz ist lang!

       ENGLISCH GEHT IMMER

      Ob han, hon oder hen, Schweden aller Altersgruppen und aller sozialen Schichten sprechen Englisch. Das liegt zum einen am Fremdsprachenunterricht in den Schulen und zum anderen daran, dass ausländische Filme und Fernsehserien nicht synchronisiert, sondern ausschließlich in der Originalsprache mit Untertiteln gezeigt werden. Da Schweden mit zehn Millionen Einwohnern ein relativ kleines Land ist, lohnt sich die Synchronisation für ausländische Produzenten nicht. So kommen schon kleine Kinder mit Fremdsprachen und vor allem dem Englischen in Berührung. Laut Eurostat, dem Statistisches Amt der Europäischen Union, verfügen die Schweden über die besten Fremdsprachenkenntnisse in der EU. 97 Prozent der Bürger sprechen mindestens eine Fremdsprache. Zum Vergleich: Deutschland rangiert auf dem 18. Platz, hier sprechen über 21 Prozent überhaupt keine Fremdsprache.

       Katharina

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