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Seenotrettungsübung. 11 Uhr, Treffpunkt Deck 6 mitsamt den Rettungswesten!

      Die Leute gehen ganz ohne Hektik in ihre Kabinen und holen die Westen. Aber stell dir vor, mein Freund, bei dir in der Kabine gibt es keine Weste. Du gehst zum Offizier und berichtest ihm. Der sagt: Ohne Rettungsweste geht es nicht. Du sagst: Okay, dann geben Sie mir eine. Er sagt: Gut, ich gebe Ihnen eine, aber das kostet einen Preis. Du: Was soll’s denn kosten? Er: Zwei Werte.

      Also musst du zwei von deine kleinen Wertzetteln weglegen. Welche beiden bist du am ehesten bereit zu opfern? Überlege genau.

      Dann geht’s weiter. Ein paar Tage später wird’s ernst. Wieder eine Durchsage. Diesmal ist es keine Übung, sondern todernst. Das Schiff sinkt und muss evakuiert werden. Gut, dass wir das geübt haben! Du holst deine Weste, diesmal in echter Hektik, hastest zum Rettungsboot und musst feststellen: Alle Boote sind voll. Sie werden gerade abgeseilt. Panik steigt in dir hoch. Ein Offizier steht daneben und brüllt, dass er noch etwas für dich tun kann. Ein paar Plätze sind noch frei. Aber das kostet dich noch mal zwei Werte.

      Du denkst kurz und heftig, wägst ab und legst zwei weitere Zettelchen weg. Zwei bleiben übrig.

      Dann wird das Rettungsboot abgelassen. Der Schiffsrumpf neigt sich bereits, es ist schwierig. Das Boot schwankt und knallt gegen den Schiffsrumpf, du fällst ins Wasser. Aber das Wasser ist saukalt, du musst so schnell wie möglich wieder raus, sonst erfrierst du. Dein Boot hängt noch auf halber Höhe fest. Einer von einem anderen Boot winkt dir zu, du schwimmst um dein Leben. Der Mann packt dich am Ärmel und wird dich gleich rausziehen, allerdings kostet dich das, du ahnst es, einen weiteren Wert.

      Welchen der beiden übrigen Werte wärst du bereit zu opfern? Welcher bleibt übrig? Welches ist dein höchster Wert?

      Am Ende hast du also ein Ranking deiner wichtigsten Werte.

      Und dann frage ich die Leute: Was genau tun Sie heute und tagtäglich unter Einsatz von Zeit, Geld und Kraft, um diesem höchsten Wert auch in der Realität zu zeigen, dass er ihr wichtigster ist?

      Und dann will ich Antworten. Und schaue oft in lange Gesichter.«

      Victor sitzt ganz ruhig da. In seinem Kopf rattert es, aber äußerlich ist großer Frieden eingekehrt. Er schaut ganz gelöst aus, die Wolken haben sich verzogen.

      Gesundheit, Liebe …

      oft sind es die Werte, die nicht so erfüllt sind oder die gegenwärtig bedroht sind, die im Ranking ganz oben landen. Es sind auch oft die Werte, die im Alltag hintenanstehen müssen. Überraschend wenig geht es bei den zentralen Werten um Berufliches. Zwischen Innen und Außen gähnt bei den meisten Menschen ganz offensichtlich ein tiefer Abgrund.

      Die meisten, die gefragt werden, was sie anders machen würden, wenn sie noch mal leben dürften, sagen: Mich mehr um meine Liebsten kümmern. Bei vielen geht es um Liebe, Beziehung, Partnerschaft, Nähe, Intimität. Auch Kinder und Freundschaften kommen in der Rückschau in vielen Leben zu kurz.

      Ist doch auch klar. Kein Mensch sagt auf dem Sterbebett: Schade, dass ich nicht mehr Zeit im Büro verbracht habe. Karriere ist es nicht. Auch nicht bei Victor.

      Ich könnte ihn fragen: Stell dir vor, du hättest alle finanziellen Ressourcen, die du haben willst, die du bräuchtest für das, was du im Leben vorhast. Und stell dir vor, es wäre ausgeschlossen, dass es ein Misserfolg werden könnte, egal was du anpackst – was würdest du mit deinem Leben anfangen?

      Oder ich könnte ihn fragen: Warum begehst du nicht heute Abend Selbstmord? Was genau hält dich davon ab?

      Aber das brauche ich ihn gar nicht mehr zu fragen, er hat es bereits gecheckt. Jetzt bin ich nur gespannt, was er ändern wird. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er eine solche Lusche ist, dass er einfach so weitermacht wie bisher. Man kann sich gut und gerne mal verrennen. Und man darf auch mal den Durchblick verlieren. Das ist nicht schlimm. Aber wenn man dann wider besseres Wissen einfach so weitermacht, nur weil man zu feige ist, die Konsequenzen zu ziehen, nur weil man weiter den Weg des geringsten Widerstands gehen will, dann vergeudet man sein Leben. Und das ist das Einzige, was gar nicht geht!

      Der Philosoph und Unternehmensberater Rupert Lay hat einmal sinngemäß gesagt: Ein Mensch, der nicht lebt, sondern gelebt wird, ist das ärmste aller Schweine.

      Geld hilft bei der Suche nach dem Sinn wenig. Oft ist es nur Ersatz. Geld ist aber auch nichts Schlechtes. Wenn ich weiß, was mein Lebenszweck ist, kann es helfen, Geld für die Umsetzung zu haben.

      Umgekehrt ist es oft so, dass das Geld von alleine kommt, wenn Sie nur tun, was Sie wirklich wollen. Denn wir Menschen haben eine unglaubliche Kraft und Ausstrahlung, wenn wir unserem Leitstern folgen. Wir können förmlich Berge versetzen, wenn wir wissen, wofür wir leben. Wir können andere Menschen für unser Ziel faszinieren und gewinnen. Und wir haben Energie für zwölf. Dann sind wir oft so erfolgreich, dass uns auch der materielle Erfolg zusätzlich in den Schoß fällt, obwohl der vielleicht gar nicht das Ziel war.

      Es kann aber auch sein, dass Sie Ihren Sinn in etwas finden, womit Sie gar kein Geld verdienen können. Sie könnten Streetkids in Rio de Janeiro helfen, ganz altruistisch. Da ist Geld nicht wichtig, zumindest nicht Geld für Sie persönlich. Und Sie könnten damit sehr glücklich sein. Sie würden nach Ihren Werten leben. Wenn Ihre Grundbedürfnisse erfüllt wären, würde jeder Euro, den Sie mehr hätten, Sie kein bisschen glücklicher machen.

      Wenn Sie weder einen Sinn gefunden noch Geld haben, das ist dann allerdings wirklich bitter!

      Ich habe mich gefragt, was ich machen würde, wenn ich bei »Schlag den Raab« den Jackpot holen würde. Was dann? Na ja, ich weiß, ich bin bequem. Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, ist für mich ein positiver Antrieb. Wenn ich steinreich wäre, würde das wegfallen, vielleicht würde mir dann die Motivation fehlen und ich würde lethargisch werden.

      Ein bisschen weniger Geld kann gut sein, um glücklich zu leben.

      Und Sie sollen ja auch nicht gleich Ihren Job kündigen. Sie könnten auch einfach weiter Ihre Brötchen verdienen und nebenbei etwas Ehrenamtliches machen. Was aus Ihrer Sicht Sinnvolles tun. Geld würde keine Rolle spielen, aber Sie könnten Ihre Werte leben.

      Ich für mich habe eine ziemliche Luxushaltung angenommen. Ich habe mir geschworen, beruflich nichts zu tun, was zwar Geld bringt, aber aus meiner Sicht sinnlos ist und mir keinen Spaß macht. Ich habe mich dafür entschieden, Gelderwerb, Sinn und Spaß miteinander zu vereinen. Machen wir uns nichts vor, das ist ein verdammt hoher Anspruch. Das kann nicht jeder in jeder Situation. Diese Haltung haben zu können ist ein Privileg!

      Victor sitzt verdreht auf seinem Hocker und schaut sich die anderen Gäste an. Ich wische die Arbeitsfläche ab.

      Dann hole ich Luft und sage eindringlich zu ihm: »Wenn du weißt, die nächsten dreißig Jahre musst oder willst du Geld verdienen, dann mach doch etwas, was dir Spaß macht und was du sinnvoll findest! Natürlich nur, wenn dir das wichtig ist …«

      »Du hast schon recht.« Victor dreht sich um und schaut mich geradeaus an. »Was glaubst du, was mir in den letzten Wochen so alles im Kopf rumgeht! Ich habe schon verstanden, welche Entscheidung für mich ansteht.

      Aber so einfach finde ich das nicht.

      Mir ist schon mal eine Beziehung in die Grütze gegangen. Meine erste Frau wollte wegen des Jobs keine Kinder, da ging es ja noch mit der Trennung. Aber jetzt haben wir Kinder, auch ein gemeinsames. Was, wenn das jetzt in die Brüche geht? Ich kann mir das nicht vorstellen, weißt du?«

      »Du hast Angst, ist klar.«

      »Ja, natürlich habe ich Angst, verdammt! Meine Frau bekommt ja auch mit, dass ich nicht glücklich bin.«

      »Woran merkt sie es denn?«

      Victor muss lachen. »Also, du bist echt ’ne Marke, hey. Pass auf, du bist mein Barkeeper, dir vertraue ich alles an … beinahe alles!« Er räuspert sich, nimmt einen Schluck aus dem Strohhalm.

      »Also, meine Ex, die hat mich dauernd

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