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      Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

      Im Anhang findet sich ein Glossar.

      © 2020 Emons Verlag GmbH

      Alle Rechte vorbehalten

      Umschlagmotiv: mauritius images/Roland T. Frank

      Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

      Umsetzung: Tobias Doetsch

      Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

      E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

      ISBN 978-3-96041-666-1

      Originalausgabe

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      Was du liebst, lass frei.

      Kommt es zurück, gehört es dir – für immer.

      Konfuzius, chinesischer Philosoph,

      551 v. Chr. bis 479 v. Chr.

      Wer gut darin ist, den Feind zu besiegen,

      lässt sich nicht auf ihn ein.

      Laotse, chinesischer Philosoph,

      6. Jahrhundert v. Chr.

      Juan liebte es, unter dem Ginkgo zu sitzen und den fremden Menschen zuzusehen, wie sie den Baum bewunderten. Fünfhundert Jahre alt sei er, hatte Zǔmǔ gesagt. Jeden Tag kam Juan hierher, bevor er zur Schule ging. Er mochte Zǔmǔs spannende Geschichten, die von früher erzählten, von ihren Eltern, die sie seit einiger Zeit pflegte, weil sie gebrechlicher geworden waren. Sie kochte auch gut. Er mochte die Pfannkuchen mit den Krabben und dem schwarzen Reis. Auch den Stinkfisch, den sie mit besonderen Gewürzen zubereitete.

      Heute wollte keine grosse Freude aufkommen. Sein Aufenthalt unter dem Ginkgobaum kam einer Flucht gleich. Am Morgen war es zu Hause laut gewesen. Māmā und Bà hatten einander angeschrien. Juan kannte den Grund nicht. Sie stritten selten, waren friedliche Menschen. Māmā arbeitete morgens und abends im Haus neben Zǔmǔs, wo sie Touristen beherbergte, am Nachmittag verkaufte sie an einem Souvenirstand selbst hergestellte Handwerkskunst aus Bambus. Jeden Tag, sieben Tage die Woche, das ganze Jahr hindurch. Bà hatte seine Arbeitsstelle am Fluss, wo er beim Ein- und Ausladen der Schiffsfrachten half.

      Etwas war anders. Juan fühlte es. Veränderungen mochte er nicht. Deshalb war er ausgerissen, hatte sogar auf das Frühstück verzichtet. Nun plagte ihn der Hunger.

      Wo war seine Schwester geblieben? Hatten sich die Eltern ihretwegen gezankt? War sie deswegen verschwunden? Bereits gestern Abend hatte sie nicht am Tisch gesessen, ihr Platz war leer gewesen. Am Abend, an dem sich die ganze Familie gewöhnlich am Tisch traf, bevor Bà sich auf sein Zimmer zurückzog und in den Fernseher starrte.

      Juan schaute in das dichte Geäst über ihm. Die fächerartigen Blätter gaben ihm keine Antwort. Vielleicht wusste Zǔmǔ etwas. Er würde sie fragen.

      Ohne den Baum aus den Augen zu lassen, erhob er sich, war etwas wehmütig, als er den Weg über die Strasse einschlug. Der Ginkgo gab ihm Kraft an Tagen wie diesem, wenn er verzweifelt war und die Tränen unterdrückte, die in seinen Augen brannten. Fast hätte ihn ein Tuk Tuk überrollt, wäre er nicht geistesgegenwärtig ausgewichen. Ein zahnloses Lächeln folgte ihm, als er rückwärts weiterging. Der Alte mit der verrosteten Karre wohnte zwei Häuserzeilen neben Zǔmǔ. Juan kannte ihn, seit er sich erinnern konnte. Meistens transportierte er die reichen Leute aus der Stadt oder ausländische Besucher, die sich nicht nur an seinem Gefährt, sondern auch an ihm ergötzten; an dem Mann mit dem gefurchten Gesicht, auf dem die Geschichte seines Volkes eingemeisselt war.

      Die rote Lampe bewegte sich im Wind, der vom See her kam. Sie sah lädiert aus. Zǔmǔ wollte sie nicht ersetzen. Die Lampe habe schon oft Glück gebracht, sagte sie jeweils, wenn man sie auf den ausgefransten Stoff hinwies. Vier gesunde Söhne habe sie geboren. Einer davon war Bà.

      Aus dem Innern des Hauses drangen Stimmen. Zǔmǔ hatte Besuch. Juan schlich auf die Veranda, versuchte, das Knarren der unebenen Hölzer zu vermeiden, und tastete sich gebückt zu einem offen stehenden Fenster vor. Er äugte über den Sims, sah direkt auf Zǔmǔs Rücken. Trotz ihrer geringen Körpergrösse füllte sie das Wohnzimmer gefühlte hundert Prozent aus. Zǔmǔ war eine Übermutter. Sie hatte hier das Sagen, seit ihr Mann vor vier Jahren gestorben war. So verwunderte es Juan nicht, als er Bà sprechen hörte. Er war hierhergegangen, nicht zum Fluss. Ob er Probleme hatte? Juan lauschte. Das Gespräch hörte sich nicht gut an.

      «Man hat sie abgeholt», sagte Bà mit erstickter Stimme.

      «Ich habe es kommen sehen und dich gewarnt», räumte Zǔmǔ weinerlich ein. «Hättest du bloss auf meine Worte gehört. Früher oder später holen sie alle. Es ist gefährlich, sich gegen den Willen der Regierung durchzusetzen.»

      Bàs Gesicht tauchte auf, von Sorge umwölkt. Seine Augen waren geschwollen. Juan hatte ihn noch nie in einer solchen Verfassung gesehen. Er würde diese traurigen Züge niemals mehr vergessen. Es machte ihm Angst.

      «Ich muss etwas dagegen unternehmen», sagte Bà.

      Zǔmǔ hob ihre Stimme. «Sei still, Sohn. Wir haben uns dieses Leben nicht ausgesucht. Manchmal müssen wir die Dinge akzeptieren, wie sie sind. Trotzdem können wir wachsen und gedeihen. Schweigend wie die Mehrheit, aber von Liebe erfüllt.»

      EINS

      «Sind Sie Maximilian von Wirth?» Der Mann am Telefon hatte eine tiefe, blecherne Stimme.

      «Wer will das wissen?» Max war misstrauisch. Ausser seiner Mutter nannte ihn niemand mit vollem Namen.

      «Das tut hier nichts zur Sache», kam es unwirsch zurück. «Ich will Ihnen mitteilen, dass der Flugzeugabsturz vor vier Jahren kein Unfall war.»

      Max sah auf das Display seines iPhones, während er einen harten Stich unter der Brust spürte. Die Nummer war unterdrückt. «Teilen Sie mir Ihren Namen mit?»

      Der Anrufer hatte aufgelegt.

      Noch waren die Hänge in ein violettes Licht gehüllt. Der Himmel darüber wirkte unwesentlich heller. Über der Rigi, deren Konturen sich scharf vor dem Hintergrund abzeichneten, schimmerte es rötlich. Allmählich tauchte die Welt in orange Töne ein. Dunstschleier waberten durch die Täler. Die Sonne stieg auf, überflutete die Wiesen, drang in die Felsen und brachte den Berg gegenüber zum Leuchten.

      Mittsommernacht auf der Alp Fräkmünt am Pilatus. Das war bereits Vergangenheit und Fedes Idee gewesen. Sie hatte Max nicht dafür begeistern können, mit ihr nach Andenes in Norwegen zu fahren. Dort gehe im Sommer die Sonne nicht unter, hatte sie geschwärmt. Und feiern könne man da auf Teufel komm raus. Die Aussicht auf einen neuen Fall hatte Max davon abgehalten, den Koffer zu packen und nordwärts zu reisen. Den Auftrag, eine betagte Dame in deren Haus zu bewachen, hatte er später jedoch abgelehnt. Er war Privatdetektiv und kein Babysitter für Rentnerinnen.

      Auf ihren neuen Vorschlag hin war er mit ihr am Vorabend mit der Gondelbahn von Kriens aus über die Krienseregg auf die Fräkmüntegg gefahren, wo sie sich einer Gruppe alternativer Männer und Frauen angeschlossen hatten, die in der Nähe der Bergkapelle Zelte aufgestellt hatten. Sie hatten bis tief in die sternenklare Nacht hinein um ein Lagerfeuer gesessen, diskutiert, später rituelle Tänze aufgeführt, sodass Fede doch noch auf ihre Kosten kam. Jetzt gehe es wieder bergab, und die Nächte würden länger, hatte Max lapidar gemeint. Er sei eine Spassbremse, hatte Fede gemotzt und weitergetanzt, bis sie vor Erschöpfung im Gras gelandet war. Der Applaus der jungen Leute war ihr sicher gewesen.

      Zu ihren Füssen breitete sich der Vierwaldstättersee aus. Tiefblau wand er sich im zarten

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