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Zeit der Lügen. Hilde Hagerup
Читать онлайн.Название Zeit der Lügen
Год выпуска 0
isbn 9788711442135
Автор произведения Hilde Hagerup
Издательство Bookwire
Hilde Hagerup
Zeit der Lügen
Roman
Aus dem Norwegischen von
Gabriele Haefs
Saga
Jonas Nilsen zählt die Tage, bis seine Mutter zurückkommt. Sie ist im Gefängnis, seit Jonas acht Jahre alt war. Jetzt ist er vierzehn. Während dieser Zeit hat Jonas ihr die Wahrheit über sich verschwiegen.
Nun hat sie ihre Strafe abgesessen, und Jonas weiß, dass er ihr erzählen muss, dass er ganz und gar nicht beliebt ist, dass er nicht Klassensprecher ist, dass er ein schwacher Schüler ist und dass er keine Freundin hat. Das Leben ist mit Jonas bisher ziemlich rau umgesprungen. Er und sein Vater kommen nicht gut miteinander klar. Es steht für Jonas viel auf dem Spiel, und es ist so wichtig für ihn, dass seine Mutter begreift, wie die Dinge liegen und warum er sie in seinen Briefen und Telefongesprächen einfach belügen musste.
Hilde Hagerup, geboren 1976, ist eine erfolgreiche norwegische Autorin, die schon zwei Mal mit dem Norwegischen Kritikerpreis ausgezeichnet wurde. Sie ist die Tochter des bekannten Jugendbuchautors Klaus Hagerup. Hilde Hagerup studierte Geschichte in London und lebt und arbeitet heute in Oxford. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
1
Jonas Nilsens Mutter hat einen Fernseher in der Zelle. Und einen kleinen Schreibblock und einen Tisch und ein Bücherregal mit fünf Büchern. Sie hat einen Kleiderschrank mit T-Shirts und Hosen, sie hat einen Kalender an der Wand, mit Bildern von Hundebabys. Puppies 2007 steht darauf. Sie hat einen Spiegel und eine Haarbürste und einen Heizkörper hinter einem Gitter.
Und auf einem Brett über dem Bett hat sie ein Bild von sich und Jonas. Dieses Bild ist vor sechs Jahren aufgenommen worden. Jonas sitzt neben ihr auf der Treppe zu Hause in Krattbo. Ihr Lippenstift ist rosa und ihr Trägerkleid grün. Er hat einen dunklen Struwwelkopf und dunkle Augen. Er sieht skeptisch aus. Genervt. Obwohl er ein Eis in der Hand hält. Obwohl es noch über einen Monat dauern wird, bis seine Mutter einen Mann tötet.
Marita Nilsen geht zu dem Bild und streicht Jonas über die Wange.
Sie spürt nichts unter ihren Fingerspitzen.
Nur kaltes Glas.
Jonas Nilsen ließ sich Zeit im Badezimmer. Er stand vor dem Waschbecken und beugte sich zum Rasierspiegel vor. Der war auch ein Vergrößerungsglas, er war zwei Dinge in einem, im Prinzip konnte man alles sehen. Alle Pickel, Kratzer, alle harten schwarzen Stoppelhaare am Kinn, die geplatzten Äderchen, die die Wangen rot machten, den Rotz in den Nasenlöchern, wenn man den Kopf in den Nacken legte.
Jonas legte den Kopf in den Nacken.
Als er seine Nasenlöcher ausgiebig betrachtet hatte, öffnete er den Badezimmerschrank und nahm eine Packung Zahnseide heraus. Nur Putzen und Spülen reichte ja nicht. Auf diese Weise wurde man die Essensreste nicht los, schon gar nicht die Krümel, die sich zwischen den Backenzähnen versteckten. Wenn man nicht gründlich vorging, konnten die Krümel wochenlang dort sitzen bleiben. Dann riskierte man Löcher in den Zähnen. Jonas spannte den Faden zwischen Daumen und Zeigefinger, wie er das beim Zahnarzt gelernt hatte. Er wollte rein gar nichts riskieren.
Jemand rüttelte an der Türklinke.
Jonas Nilsen ließ sich nichts anmerken. Er öffnete den Mund und legte den Kopf in den Nacken, um richtig hineinlangen zu können, um zu sehen, was für Gemeinheiten dort lauerten, Bakterien, die sich ihren Weg nagten und ihm bald wehtun würden.
»Jonas?«
Vor der Badezimmertür stand der Vater. Jonas wusste, dass er schon eine ganze Weile dort gestanden hatte, ohne etwas zu sagen.
Aber wer die Badezimmertür abschließt, tut das, weil er das Bedürfnis hat, allein zu sein.
»Aufmachen.«
Jonas fischte ein kleines Stückchen Apfel aus seinen Zähnen.
Wenn niemand je das Bedürfnis hätte, allein zu sein, müsste es keine Schlüssel geben.
»Nein.«
»Was machst du?«
Jonas zog die Zahnseide aus dem Mund und stellte fest, dass die sich gerötet hatte. Er warf den blutigen Faden in den Mülleimer und blieb mitten im Raum stehen, während er durch den Türspalt den schweren Atem des Vaters hörte.
»Jonas?«
»Nichts.«
»Genau. Und jetzt machst du verdammt noch mal auf! Ich kann diesen Quatsch nicht mehr ertragen!«
Wieder wurde an der Klinke gerüttelt. Hart.
»Joi«, sagte Jonas.
Die schwarzen Haare fielen ihm in die Augen. Jetzt sah er die Welt nicht mehr. Jetzt sah er im Spiegel sein eigenes bleiches, hässliches Gesicht nicht mehr. Er nahm einen Gelklumpen aus der kleinen roten Dose auf dem Waschbeckenrand und strich sich die Haare nach hinten. Dann hob er noch einmal den Blick, und zum ersten Mal fiel ihm die Decke des Badezimmers auf. Die war tapeziert. Psychedelisch. Braun und Orange. Von diesen Farben wurde ihm schwindlig. Wenn er stehen blieb und sich das Muster ansah, würde er sich bald nicht mehr aufrecht halten können.
Sie kamen eine halbe Stunde zu spät. Das machte nichts, sie mussten trotzdem zehn Minuten im Lehrerzimmer auf die Rektorin warten.
Jonas’ Vater konnte nicht still sitzen. Er schob seine Kaffeetasse hin und her, er kleckerte, er wischte den lauwarmen Kaffee mit dem Daumen vom Tisch, er spielte an den Blättern der Plastikblume herum, schloss seine Jacke und öffnete sie wieder, hob die Hände, drehte sich zur Tür, auch wenn niemand hereinkam.
Am Ende sah er Jonas an.
»Hm?«
Das war das Einzige, was er gesagt hatte, seit Jonas aus dem Badezimmer gekommen war. Jonas schüttelte den Kopf. Der Vater holte Luft, hielt sie an, stieß sie durch die Nasenlöcher aus, sodass fast ein Pfiff entstand. Pfiiiiiip. Er versuchte, etwas zu sagen, aber das dauerte, und es dauerte Stunden, einige wenige Sätze herauszupressen, und wenn er damit angefangen hatte, war keine Zeit mehr. Jonas’ Vater schaffte es nie, das zu sagen, was wichtig war. Auch jetzt nicht. Zum Glück.
»Da seid ihr ja.«
Die Rektorin war größer als sie beide, sie war größer als die meisten anderen, deshalb ging sie immer mit gesenktem Kopf und durchgebogenen Knien. Sie gab Jonas die Hand, aber sie machte das ungeschickt. Ihre Hand war kalt und fast glatt. Sie war ebenfalls nervös.
»Wie nett, dich wieder bei uns zu haben, Jonas«, sagte die Rektorin.
Sie nickte beim Reden. Jonas’ Vater fing ebenfalls an zu nicken. So war der Vater von Jonas Nilsen: zu Hause sauer und anderswo peinlich.
»Ja. Ja ... danke.«
Jonas sah, dass sein Vater erleichtert war. Angespannt, aber doch erleichtert. Das wurde deutlich an der kleinen vibrierenden Runzel, die der Vater im Mundwinkel hatte. Ein Versuch eines Lächelns. Ein Anfang.
»Das wird bestimmt sehr gut gehen«, sagte die Rektorin.
Der Vater leckte sich die Oberlippe. Er hatte sich den Schnurrbart abrasiert, die Spucke blieb hängen und glitzerte, während sie trocknete. Sie sah aus wie Schweiß. So, als ob er gerannt wäre. Jonas sah, dass der Vater Atem holte. Anlauf nahm. Dann kam es.
»Das ... da ... da. Bin ich mir nicht so verdammt sicher.«
Die Runzel in seinem Mundwinkel vibrierte und vibrierte. Dann verschwand sie. Jonas Nilsens Vater kam nicht weiter, es wurde wohl zu viel. Er schaffte es nicht, die Rektorin anzulächeln. Stattdessen hob er die Hand, um Jonas durch die Haare zu fahren. Er fuhr Jonas niemals durch die Haare, wenn sie nur zu zweit waren. Das hier machte er sicher nur, um dem Jugendamt zu entgehen. Um nicht als Rabenvater dazustehen.
Aber Jonas wich aus, und die Hand blieb in der Luft hängen; die Rektorin folgte ihr mit den Augen und nickte immer weiter. Nick, nick, nick. Die ganze Zeit starrte sie auf die Hand des Vaters,