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Die Nacht der Delfine

      Mit Illustrationen von David Dean

      Aus dem Englischen von

      Christoph Renfer

      Verlag Freies Geistesleben

      Für meinen Patensohn Francis,

      der zwar noch etwas zu jung ist,

      um dieses Buch zu lesen,

      dafür aber Delfine und Haie

      mit «farfen Pfähnen» liebt.

      • 1 •

      Als Miss Volkner ihrer Klasse eröffnete, dass sie eine Studienfahrt unternehmen würden, um die «Sardinenwanderung» zu beobachten, musste Martine Allen sofort an silberne, mit Tomatensauce bedeckte Dosensardinen denken – doch in ihrer kuriosen Vorstellung waren die Sardinen noch ganz und wanderten in silbernen Knickerbockern und roten Kniestrümpfen die südafrikanische Küste entlang.

      Damit lag sie allerdings völlig falsch. Die Sardinenwanderung war laut Miss Volkner eines der großartigsten Naturereignisse der Welt – eine Wanderung im Meer. Jedes Jahr im Juni und Juli zogen Millionen von Sardinen aus den seichten Gewässern vor Kap Aghulas, der südlichsten Spitze Afrikas, in einer kalten Strömung gegen Osten. Mit weit geöffneten Mäulern verfolgten sie ihre Lieblingsspeise, das nährstoffreiche Plankton, und verschlangen es, während sie unbeirrbar weiterschwammen. Die Sardinen wiederum wurden von Zehntausenden von hungrigen Delfinen, Schwarzhaien, Schildzahnhaien, Kupferhaien und großen Schwärmen von Kaptölpeln mit ihren Jungen verfolgt.

      Martine und ihre Mitschüler würden sich also dieser Meereskarawane anschließen und mit der Sardinenwanderung die Küste von KwaZulu-Natal entlangfahren, um schließlich weiter nördlich Dugongs zu zählen.

      «Was sind Dugongs?», fragte Martine flüsternd Sherilyn Meyer, woraufhin diese sie aufklärte, dass es sich dabei um «süße, graue Pummel» handelte, «so was Ähnliches wie eine Kreuzung zwischen Flusspferd und Robbe.Früher haben die Seeleute geglaubt, Dugongs wären Meerjungfrauen.»

      Die Klasse konnte sich vor lauter Begeisterung kaum einkriegen. Zehn freie Tage mitten im Schuljahr und das auf einem Kreuzfahrtschiff. Auch Martine war außer sich vor Freude, bis Miss Volkner ein Merkblatt verteilte. Ganz oben auf der Packliste für die Klassenfahrt stand: 1 Badeanzug.

      Martine streckte die Hand in die Höhe. «Entschuldigen Sie, Miss Volkner, aber warum brauchen wir einen Badeanzug?»

      Ein Gekicher ging durch das Klassenzimmer, und auch Miss Volkner konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

      «Das Ganze nennt sich Seefahrt, weil wir zur See fahren, Martine», sagte sie. «Nie wieder wirst du so viel Gelegenheit zum Schnorcheln, Tauchen und Herumplanschen haben. Und ich glaube kaum, dass du das so ganz ohne Badeanzug tun möchtest!»

      Allgemeines Gelächter.

      «Aber, äh …», Martine rang nach den passenden Worten, «… was ist denn, wenn einer von uns nicht schwimmen will?»

      «Weshalb in aller Welt solltest du nicht schwimmen wollen?», fragte Miss Volkner überrascht. «Die Riffe sind wunderschön. Ich versichere dir, Martine, wenn du erst einmal im offenen Meer draußen geschwommen bist, den Meeresgrund fast ein Kilometer unter dir, werden wir dich kaum noch aus dem Wasser kriegen.»

      Irgendjemand stellte eine weitere Frage. So fiel es denn auch niemandem auf, dass Martines Gesicht aschfahl wurde und ihre Knie unter dem Pult zu zittern begannen.

      In dieser Nacht kamen die Haie zum ersten Mal. In dreidimensionalen Albträumen umkreisten sie Martine, die kalten, tief liegenden Augen auf ihre strampelnden blassen Gliedmaßen gerichtet, mit denen sie sich in der stürmischen See über Wasser zu halten versuchte. Woche für Woche kamen die Träume immer häufiger und immer heftiger, sodass Martine schließlich Angst davor hatte einzuschlafen. Zwei Tage vor der geplanten Abreise setzte sie sich sogar mit einem Stapel Bücher auf dem Kopf aufrecht ins Bett, damit diese sofort zu Boden krachten, sollte sie einnicken. Doch beim dritten Mal war sie bereits so erschöpft, dass sie gar nicht mehr hörte, wie die Bücher auf den Fußboden polterten. Sie versank einfach in den Bettlaken und ergab sich den gefräßigen Meeresräubern.

      Wild zappelnd wehrte sich Martine gegen das Ertrinken und die gefräßigen Haie in einem Ozean, der so eiskalt war, dass sich ihre Beine wie gelähmt anfühlten, als sie eine Stimme aus dem Nichts aus dem Traum holte. «Aufwachen, Martine! Wir müssen bald los, wenn wir früh am Strand sein wollen.»

      Martine zwang sich dazu, richtig wach zu werden. Es war Morgen, und auf ihrer Bettkante saß eine verschwommene Gestalt. Als sie blinzelte, wurde das Bild scharf. Ihre Großmutter, wie immer in Jeans, jedoch in einer hellblauen Bluse anstelle des khakifarbenen Arbeitshemdes mit Löwensignet auf der Brusttasche, musterte sie mit ihren stahlblauen Augen.

      «Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht bei offenem Fenster schlafen?», sagte sie leicht vorwurfsvoll. «Kein Wunder, dass du Albträume hast. Du frierst bestimmt. Juni ist Winter in Südafrika, Martine. Das solltest du doch mittlerweile wissen.»

      Martine versuchte, sich aus den kalten Tentakeln ihres Traums zu befreien. «Ich war dabei zu ertrinken», sagte sie verschlafen. «Die Haie verfolgten mich, und ich rang nach Luft.»

      «Aber sicher doch, du warst dabei zu ertrinken», sagte Gwyn Thomas, während sie sich vorlehnte und mit einem Griff zum Fenster die nach Antilopen riechende Luft aussperrte. «Du hast dich in den Bettlaken verfangen. Doch was sollen die ganzen Bücher auf dem Fußboden?»

      Martine befreite sich aus dem Gewirr des Bettzeugs und setzte sich auf. Sie wollte ihrer Großmutter mit ihren Albträumen keine Sorgen bereiten. «Ich habe nach einer guten Bettlektüre gesucht.»

      «Und so hast du dir zuerst Das Große Handbuch der Modelleisenbahnen und dann Jeep-Reparaturen – leicht gemacht zu Gemüte geführt?»

      Martine antwortete nicht. Sie war zu sehr von dem Bild gefangen, das sich durch das Schlafzimmerfenster hinter dem auslaufenden Strohdach auftat. In der Ferne trotteten ein paar Elefanten wie graue Geistergestalten im winterlichen Morgennebel um das Wasserloch. Obwohl sie jetzt schon seit sechs Monaten in Sawubona war, konnte sie immer noch nicht glauben, dass sie auf einem Wildreservat in Südafrika lebte. Jeden Morgen beim Aufwachen durchfuhr sie ein Schauer, wenn sie die Augen öffnete, sich auf einen Ellenbogen stützte und über die wilde Savanne blickte, die zu ihrer Heimat geworden war. Doch selbst dies vermochte den Knoten der Trauer nicht aufzulösen, der sich in ihrem Magen gebildet hatte, seit ihre Eltern an Silvester beim Brand ihres Hauses im englischen Hampshire ums Leben gekommen waren. Aber es half ihr zumindest dabei.

      Es half ihr auch, dass sie eine neue Familie hatte. Es war keine Ersatzfamilie, denn niemand würde je ihre Eltern ersetzen können, die sie mehr liebte als alles auf dieser Welt. Aber wenigstens fühlte sie sich nicht mehr isoliert. Neben ihrer Großmutter war da der hünenhafte Zulu Tendai, der vor Kurzem vom Fährtenleser zum Wildhüter befördert worden war. Tendai weihte sie in die Geheimnisse des Busches ein, gab ihr Tipps für das Überleben in der wunderschönen, aber hochgefährlichen afrikanischen Wildnis und nahm sie zum Frühstück am Lagerfeuer auf einem Plateau hoch über Sawubona mit. Martine verehrte und bewunderte Tendai, doch auch mit seiner Tante Grace verband sie eine ganz besondere Beziehung. Grace war nicht nur eine Sangoma, eine afrikanische Naturärztin und Heilerin, sondern gleichzeitig auch die beste Köchin der Welt. Ihre Vorfahren stammten aus Afrika und der Karibik, und Grace allein kannte das Geheimnis von Martines besonderer Gabe, mit Tieren zu kommunizieren.

      Doch das Allerwichtigste für Martine war ihre weiße Giraffe Jemmy (eine Kurzform von Jeremiah). Sie hatte Jemmy gezähmt und war mit ihm über die Savanne geritten. Und da war auch noch Ben, der

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