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um den anderen die Zunge herauszustrecken und ein lautloses: „Bäh!“ mit den Lippen zu formen.

      „… aber wir wollen uns jetzt nicht mit der Zukunft und allen ihren Möglichkeiten befassen, sondern mit der Gegenwart.“ Frau Dr. Mohrmann ließ die Sonnenblende vor das vordere Fenster gleiten und drehte sich wieder um. „Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, was es für uns bedeutet, in einer Industriegesellschaft zu leben?“ fragte sie.

      Niemand meldete sich, nicht einmal die siebengesdheite Silvy.

      „Denkt, bitte, mal darüber nach!“

      Ruth Kleiber hob, ein wenig zaghaft, den Finger.

      „Ja?“

      „Viele Sachen sind billiger als früher“, sagte Ruth unsicher und fügte in einem Atemzug hinzu: „Oder etwa nicht?“

      „Natürlich nicht!“ rief Silvy, ohne gefragt zu sein. „Wie kommst du denn auf den Quatsch? Meine Mutter sagt, daß alles ständig teurer wird, und mein Vater …“

      „Still!“ fuhr Frau Dr. Mohrmann dazwischen. „Jetzt ist Ruth dran! Bitte, Ruth, erkläre uns doch mal, warum du glaubst, daß viele Verbrauchsgüter billiger geworden sein könnten?“

      „Ich weiß nicht“, sagte Ruth verwirrt.

      „Irgend etwas wirst du dir doch dabei gedacht haben! Olga, willst du deiner Freundin nicht helfen?“

      „Nein“, sagte Olga mit erstickter Stimme.

      „Sie schmollt wieder mal!“ rief eine Stimme aus dem Hintergrund.

      „Daß dir das nicht selber albern vorkommt, Olga“, sagte Frau Dr. Mohrmann. „Bitte, wer von euch findet, daß Ruth recht hat? Wer weiß ein Argument, mit dem man Ruths Behauptung untermauern könnte?“

      Leonore Müller hob den Finger, und Frau Dr. Mohrmann nickte ihr zu.

      „Der Handwerker“, sagte Leonore langsam, „macht einen Gegenstand, sagen wir mal einen Anzug, von Anfang an. Nur der Stoff und die Zutaten werden ihm geliefert. Er schneidet den Anzug für einen einzelnen Menschen zu, näht ihn, läßt ihn anprobieren, vielleicht sogar zweimal und dreimal, füttert ihn, näht die Knöpfe an …“

      „Wozu erzählst du uns das?“ rief Silvy. „Das wissen wir doch selber!“

      „Silvy“, mahnte Frau Dr. Mohrmann, „wenn du noch einmal dazwischenredest, ist eine Strafarbeit fällig, verstanden?“

      „Jawohl, Frau Doktor“, sagte Silvy — aber nicht etwa reuevoll, sondern in einem geradezu herablassenden Ton.

      „In der Fabrik“, fuhr Leonore fort, „werden, sagen wir mal, hundert Anzüge auf einmal hergestellt, alle in einer Größe, und ich glaube, bloß der Zuschneider braucht ein wirklich gelernter Schneidermeister zu sein. Das Nähen, Füttern, Knöpfeannähen wird von Hilfsarbeitern durchgeführt, und zwar am laufenden Band. Einer oder eine setzt den ganzen Tag nur Ärmel ein, eine andere näht nichts als Knopflöcher, wieder eine andere nur die Knöpfe an! Also, worauf ich hinaus will, auf diese Weise muß ein Anzug billiger herzustellen sein, als wenn man sich einen vom Schneider machen läßt.“

      Als sie merkte, daß Silvy sich kaum noch zurückhalten konnte, redete sie rasch weiter: „Das ist auch wirklich so! Das weiß ich von meinem Vater. Ein Anzug, den man fertig kauft, von der Stange nennt man das, ist billiger als ein vom Schneider gefertigter!“

      „Ausgezeichnet, Leonore“, lobte Frau Dr. Mohrmann, „mir scheint, du hast dir über diese Dinge schon öfters den Kopf zerbrochen …“

      Leonore strahlte, sagte aber rasch: „Ach, nein, das ist mir nur gerade so eingefallen. Ruth hat mich auf den Gedanken gebracht.“

      „Einen sehr richtigen Gedanken“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „zu schade, daß du ihn nicht verteidigen konntest, Ruth. Es ist vollkommen richtig, die industrielle Herstellung und Bearbeitung hat die Verbrauchsgüter entscheidend verbilligt. Zu Beginn dieses Jahrhunderts und vor allem zu Ende des vorigen, als die Industrie noch in den Kinderschuhen steckte, waren viele Güter, deren Gebrauch uns heute ganz selbstverständlich ist, nur einer kleinen Gruppe von Reichen vorbehalten. Die armen Leute, und das waren damals die allermeisten, waren wirklich arm. Es fehlte ihnen nicht nur das Geld auf der Bank, sondern sie hatten auch keine Mäntel, stattdessen ein Umschlagtuch, höchstens ein Paar Schuhe, kein Kleid zum Wechseln, versteht ihr? Wenn wir heute hören, was damals alles kostete, so scheint uns das außerordentlich wenig. Aber wir vergessen, daß das Geld damals einen ganz anderen Wert hatte und daß die Menschen damals unverhältnismäßig weniger verdient haben. Wenn eure Eltern heute klagen, daß Lebensmittel und Verbrauchsgüter in den letzten Jahren teurer geworden sind, so hängt das mit dem schwankenden Wert des Geldes zusammen. Woran das liegt, ist zu kompliziert, um es euch begreiflich zu machen. Es ändert nichts an der Tatsache, daß die Industrie der breiten Masse, also uns allen, das Leben erleichtert hat. Sie hat uns Gebrauchsgüter und Lebensmittel erschwinglich gemacht und uns zudem den Zugang zu Luxusgütern eröffnet, von denen unsere Großeltern kaum zu träumen gewagt hätten. Was hat die Industrialisierung noch mit sich gebracht?“

      „Reklame!“ platzte Olga heraus.

      Einige der Mädchen lachten.

      Olga sprang auf und schrie: „Ihr seid gemein! So gemein seid ihr! Ich kann sagen, was ich will, ich werde ausgelacht! Das lasse ich mir nicht gefallen!“ Sie rannte zur Türe.

      Aber Frau Dr. Mohrmann vertrat ihr den Weg und fing sie ab. „Hoppla“, sagte sie, „nun mal nicht so stürmisch! Deine Kameradinnen haben ja nur gelacht, weil du deinen Schmollwinkel so unerwartet verlassen hast. Deine Antwort war vollkommen richtig.“

      „Dann war es doppelt gemein, mich auszulachen.“

      „Unsinn, Olga, du bist einfach überempfindlich. Und fang jetzt bloß nicht an zu weinen, das ist doch wirklich zu albern.“

      Olga kehrte langsam auf ihren Platz zurück, und es war ihr anzusehen, daß sie sich sehr schlecht behandelt fühlte.

      „Die Industrie muß Reklame machen, sie muß werben, um das, was sie herstellt, zu verkaufen“, erklärte Frau Dr. Mohrmann. „Aber ich wollte eigentlich auf eine andere Antwort hinaus. Die Industrie hat einen ganz unmittelbaren Einfluß auf unser privates Leben … genauer gesagt … auf euer privates Leben! Denkt mal nach!“

      Sie ließ ihren Schülerinnen Zeit, sah sich erwartungsvoll in der Klasse um, aber niemand meldete sich.

      „Na, Silvy?“

      „Es wird gestreikt.“

      „Auch, aber das hat kaum etwas mit eurem privaten Leben zu tun … eurem Familienleben!“ Sie hatte das letzte Wort ganz besonders betont.

      Aber keinem der Mädchen fiel ein, worauf sie hinaus wollte.

      „Leonore!“ sagte Frau Dr. Mohrmann. „Du hast uns doch eben so schön den Unterschied zwischen Handwerkertum und Industrie erklärt …“

      Leonores rundes braunes Gesicht wirkte ganz töricht, weil sie vor lauter Nachdenken die Stirn in Dackelfalten legte und den Mund offenstehen ließ. Sie begriff nicht, was die Lehrerin noch von ihr wollte.

      „Was war denn dein Großvater?“ versuchte Frau Dr. Mohrmann ihr zu helfen.

      „Mütterlicher- oder väterlicherseits?“ fragte Leonore zurück.

      Einige ihrer Mitschülerinnen fanden das komisch, aber sie spürten alle, daß es unangebracht gewesen wäre, laut herauszulachen. Sie kicherten nur unterdrückt.

      „Das ist gleich“, sagte Frau Dr. Mohrmann. „Mich interessiert nur der Beruf.“

      „Der Großvater meines Vaters war Bauer und …“

      „Stop! Bleiben wir dabei! Hat dir dein Vater mal etwas von seinem Großvater erzählt?“

      Leonore schlang sich nachdenklich eine Strähne ihres braunen, schulterlangen Haares um den Zeigefinger. „Mein Urgroßvater

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